Tony 10 – Über Anstand und Sitte

Tach Leute, musste doch mal wieder reinschaun, Franziska nervt schon seit ein paar Tagen … aber viel ist nicht los im heißen Berlin! Und G8 ist ja jetzt auch erledigt. Aber gestern in der S-Bahn wieder, ich sags euch! Alles hing verschwitzt in den Seilen, nur der eine Typ in seiner dicken Cordjacke dachte nicht ans Entblättern. Nö, er schlurfte seinen heißen Kaffee und war einfach nur dick eingepackt. Aufrecht und zufrieden. Daneben saß eine Omma, die wohl gerade einkaufen war: Jedenfalls zog sie raschelnd und knisternd eine Tüte vom Metzger aus der Tasche, machte das Wurstpäckchen auf, beäugte gierig ihre Lyoner und stopfte sich dann eine fette Scheibe in den Mund. Zur Hälfte. Als dann (ganz überraschend?) ihre Haltestelle kam, ließ sie die andere Hälfte aus dem Mund hängen, packte den Rest wieder weg und stürzte so raus. Leute gibts, sage ich euch … Der Gipfel war die etwa 35-Jährige mir schräg gegenüber. Trug einen Rock, der doch etliche Meter oberhalb des Knies schon beendet war, hockte sich aber hin, als wäre sie zu Hause in ihrer Schlabberjogginghose: Breitbeinig. Sehr breitbeinig. Ich frage euch: Muss das denn sein? Hat ihre Mutter vergessen ihr zu sagen, dass man sich mit einem Rock nicht soo hinsetzen darf? Ich fand das anstrengend. Schließlich muss mal dann immer krampfhaft irgendwo anders hinsehen; aus dem Fenster; ins Buch; auf ihre Beine. Verdammt! Auf die Weise stehe ich nicht auf Damenunterwäsche, ich finde sowas widerlich. Eine ältere Frau konnte ich beobachten, die wie gebannt auf die jüngere starrte; den Blick hob; wieder senkte. Sie schien protestieren zu wollen gegen so viel Anstandslosigkeit! Vielleicht bereitet es der Jungen ja ihre ganz spezielle perverse Freude, ihre Menschen auf diese Weise zu irritieren.
Ich sags euch … Schluss war dann, als eine dünne Stimme anfing, den ganzen Wagen zu übertönen. Erst dachte ich, da telefoniert jemand, oder die unterhalten sich laut, bis die Worte langsam an mein Ohr drangen. Eine hohe Jammerstimme: Bloß ein paar Cent, bitte bitte, ich hab solchen Hunger, ein bisschen Geld, ich bitte Sie, biiiittee! Immer wieder. Herzzerreißend. All meine wunderlichen Mitfahrer hörten mit einem Schlag auf, wunderlich zu sein. Der eine zog hastig die dicke Jacke aus. Die ältere Frau entspannte sich und wandte den Blick zum Fenster. Und die Junge verschloss endlich auf sittsame Weise die Abgründe unter ihrem Rock, als hätt es geklingelt; ohne dass ich noch einmal die Chance hatte herauszufinden, ob sie überhaupt Unterwäsche trug … Nur dem Bettler spenden wollte niemand.

Als ich dann ausstieg, war der kein uralter Greis nahe am Hungertod, sondern ein junger Mann, recht fesch und mit Pferdeschwanz. Nicht so richtig überzeugend, ehrlich gesagt.

6 Kommentare zu “Tony 10 – Über Anstand und Sitte”

  1. SuMuze
    Juni 10th, 2007 20:25
    1

    Es tut mir ja Leid, daß ich auf diesem Thema so herumtanze, aber: du mußt da raus. Das kann doch keiner gut tun. Auf die Dauer.

    Sieh mal, hier auf dem Lande, da geht abends die Sonne unter. Im Westen nähert sie sich dem Horizont (das ist die Linie, die die Luft von der Erde trennt, nicht die Traufhöhe 4.Stock wie bei euch) und malt dabei alles noch einmal so richtig schön warm und weich.

    Im Westen, das ist die andere Seite, von dir aus gesehen ist das da, wo die reichen Pinkels wohnen, geht die Sonne morgens dann auf, wenn die Leute hier zur Arbeit fahren oder den Gartenschlauch ausrollen.

    Ich meine: das sind Konstanten! Das passiert hier jeden Tag. Seit 1648, als hier nahebei der westfälische Friede ausgerufen wurde. Sowas spürst du, echt! Tief in dir drin, jo.

    Gut, Bahn, also ich werde doch wieder zu den Jeans greifen. Ist auch viel praktischer, selbst wenn mein Chef sauertöpfisch gucken wird.

    So long, und by the way: wir hier schreiben ‚Oma‘ immer noch ‚Oma‘, aber wir sagen natürlich auch ‚Omma‘, wie jeder zivilisierte Mensch!

  2. Franziska
    Juni 10th, 2007 20:51
    2

    Grins.
    (Ich als gepflegte Hochdeutschsprecherin sage „Oma“, lege ihm aber die „Omma“ in den Mund ;-)

    Das finde ich toll, was bei euch da im Westen so abgeht. Mit dem Horizont und so, das hat mich echt ergriffen. Hier im Osten geht die Sonne dreisterweise im Osten auf, darum singen die Chinesen auch so inbrünstig „Dongfang hong!“, der Osten ist rot! Aber doll, WESTfalen …
    Ich kann hier übrigens nicht weg: Bin berlinsüchtig. Ich würde auf der Stelle tot umfallen, wenn ich nicht täglich mein Lästerfutter bekäme!

  3. SuMuze
    Juni 10th, 2007 22:46
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    Ja, also das mit dem Aufgehen der Sonne, das ist mir ja peinlich, aber wegen der Ruhe hier im Westfälischen, und weil abends hier wirklich nichts mehr passiert, da bin ich morgens immer ein wenig desorientiert (in alle Richtung schweigt’s, wirklich) und da gucke ich immer nach oben statt nach unten und verwechsle rechts und links und, kurzum, deswegen geht hier die Sonne immer dahinten auf, da wo das Klärwerk ist, ähem, und wo’s nach Pupsen riecht, und ach, also, okay: bleib man ruhig erst noch eine Weile in Berlin. Solange die BVG noch fährt. Denn, hihi, die kriegen keinen Stahl mehr für ihre Achsen, den kaufen alles die Chinesen. Und die leben im – äh, Süden? Osten? – ja, im Osten. Da wo der Stahl hin geht und deswegen auch die Sonne. So!

  4. Franziska
    Juni 11th, 2007 22:21
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    Aber ein bisschen ländlich-romantisch stelle ich es mir schon vor bei dir – mit dem Klärwerk und so. Ich glaube, ich war noch nie in Westfalen!

  5. SuMuze
    Juni 12th, 2007 08:07
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    Wenn ich mir Klärwerk usw. weg denke, dann sieht es hier manchmal so wie auf diesem Bild aus.

  6. SuMuze
    Juni 12th, 2007 16:55
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    Habe ich ganz vergessen (da Eigenwerbung), aber wenn du auf Pooh klickst (also auf meinem Blog natürlich) kommt ein Bild (wechselt manchmal, wie ich gerade Lust habe) das zur Zeit auch zeigt, wie schön es hier sein kann (das Wasser auf dem Bild ist selbstverständlich sauber, wg. Klärwerk [dieses Klärwerk läßt mich einfach nicht in Ruhe]. Hier herum ist einfach alles sauber, wg. Westfalen, das sind sehr ordentliche Menschen. Fast jedes Dorf hier hat z.Bsp. sein eigenes Klärwerk…)