Archiv für April 2007

Andreas 30

Dienstag, 17. April 2007

Er starrte auf den Bildschirm seines Fernsehers und hatte plötzlich überhaupt keine Lust mehr, seine Heldenhaftigkeit zu erproben. Was sah er da? Schlimmster Amoklauf in den USA, 23-jähriger koreanischer Student durchgedreht? Andreas stellte seinen Fencheltee zur Seite und ging in die Küche: nachsehen, ob ganz zufällig eine Flasche Bier in seinem Kühlschrank gelandet war. Das hätte ihm jetzt gut getan. Stattdessen versuchte er sich mit seinen Heuschnupfentropfen zu trösten. Vielleicht dämpften sie ein bisschen das Böse dieser Welt. Wenigstens das winzig kleine.

Katastrophensitzung im Kommissariat. Alle waren sie gekommen, und alle starrten nun Nina an, die eine Stunde zuvor nervös behauptet hatte, etwas über den „Schwerträcher“ zu wissen. Eckart bohrte seinen Bleistift in den Tisch und gab sich betont desinteressiert. Einige glotzten aus dem Fenster. Schließlich, als langsam Ruhe eingekehrt war, erhob sie sich und ging nach vorne. Sah sie alle an und klatschte dann einmal und triumhierend in die Hände. „Semmelmayr, Sie können jetzt reinkommen!“ Und herein kam ein rundlicher, schweißgebadeter Diener des Staates, der ein enormes japanisches Schwert trug, das er schließlich schnaufend auf den Tisch legte. Ein Murmeln ging durch den Raum – das hatte keiner erwartet! Nina von Müllersdorf hatte also beschlossen, die Fäden in die Hand zu nehmen. Beim Anblick der mächtigen Waffe rutschte Eckarts Bleistift aus und bescherte jenes wundervolle Quietschen, das man von der Lehrertafel kennt …

Diese Vorstellung tat Andreas gut. Lehrertafeln! Da war er doch mal ganz in seinem Element, mit kreischender Kreide und so. Aber was sollte Nina eigentlich mit dem blöden Schwert?

Andreas 29

Montag, 16. April 2007

Erster Schultag nach zwei Wochen friedlichen (oder auch nicht friedlichen) Nichtstuns. Andreas beobachtete hasserfüllt die unausgeschlafenen Jugendlichen in der S-Bahn, die reinstürmten, die Fenster aufrissen und dann ihre Handys fürchterliche Musik abspielen ließen – in Disco-Lautstärke, versteht sich. Und als er sie anstarrte, malte er sich genüsslich seine ungewöhnlichen Methoden ihrer Erziehung aus. Sein Gesicht aber blieb währenddessen unberührt und abweisend wie immer. Wenn seine Mitfahrer seine Gedanken erraten hätten – sie wären schreiend aus dem Abteil gestürmt.

Wieder einmal blickte er auf eine Leiche unter sich, und diesmal war sein Werk ein wahres Kunstwerk, ein Geschenk für die Meister der Pathologie! Der makellose Schnitt hatte Luftröhre und Speiseröhre so säuberlich durchtrennt, dass die Überreste dieses Körpers, der einmal einem Unwürdigen gehört hatte, dem staunenden Betrachter tiefe Einblicke gewährten. Und wieder reinigte er liebevoll sein Schwert, bevor er es verstaute. Nur eines war diesmal anders: Er wurde beobachtet. Und ahnte es nicht.
Nina hatte sich ganz ins Dunkel der Bäume zurückgezogen und fror plötzlich am ganzen Leib. Was sollte sie jetzt tun?

Andreas 28

Sonntag, 15. April 2007

Am Abend eines unglaublich sonnigen Aprilsonntags saß Andreas missmutig in seiner Küche und zog immer wieder den Beutel seines Fencheltees aus seiner Tasse, um ihn dann wieder zurückplumpsen zu lassen. Nichts lief so, wie er es wollte! Obwohl alle Leute um ihn herum den Frühling zu genießen schienen, war er so einsam wie eh und je. Die Postkarte seiner Cousine hatte ihn wieder daran erinnert: So war es schon vor fast dreißig Jahren gewesen, so würde es immer sein. Die anderen lachten nur über ihn und er trat immer nur auf der Stelle. Heute war er deshalb auch nicht an einen der munteren Seen Berlins gefahren, sondern zur Gedenkstätte Sachsenhausen nach Oranienburg. Das war in seinen Augen angemessener, zumal es der Holocaust– Gedenktag war.
Nun aber saß er müde am Küchentisch, und viel mehr als die Frage nach der Feigheit der Deutschen von damals beschäftigte ihn seine eigene Feigheit. Seine Untätigkeit. Würde er zum Beispiel jemals im Stande sein, jemanden zu töten? Auch der sonntägliche Tatort hatte ihm dabei nicht weitergeholfen: Der Täter ein unglücklicher und überforderter Familienvater. Die Rolle des verdächtigen Sohnes unklar. Die Art und Weise, wie das unbekannte Mädchen letztendlich zu Tode gekommen war, ebenfalls unklar. War er denn nicht mal dazu in der Lage, einen Krimi zu verstehen? Was dachte die kühle Kommissarin Lindholm am Ende über den Fall? Und was dachte Kommissarin Nina über den verkappten Samurai?

Sie ging verzweifelt in ihrem geräumigen Wohnraum auf und ab und es war ihr, als zerreiße sie etwas innerlich. Wie sollte sie sich in Zukunft verhalten? Sie hatte seine Wut gespürt, und auch seine männliche Kraft. Dieser Mensch war eindeutig zu Außerordentlichem imstande. Aber auch zu all diesen schrecklichen Morden, die Berlin seit Wochen erschütterten? Sie würde Rat suchen müssen; die Frage war nur, bei wem. Denn eins war klar: Würden ihre Kollegen herausfinden, was sie getan hatte – sie wäre ihren Job auf der Stelle los.

Auch Andreas ging nun auf und ab, wobei er immer wieder gegen den Küchenstuhl stieß und einmal seine Teetasse umwarf. Plötzlich nahm er das einzige scharfe Messer in die Hand und befühlte seine Spitze mit dem Daumen. Ob er es einfach mal ausprobieren sollte? Vielleicht wäre er dann endlich ein Held, stark und unbezwingbar. Wie ein Indianer der Großstadt.

Andreas 27

Samstag, 14. April 2007

Als Andreas an diesem letzten Feriensamstag vom Einkaufen heimkehrte, fand er zu seiner Überraschung eine Postkarte im Briefkasten. Wer sollte ihm schreiben? Eine fremde Briefmarke – aus Albanien! Das Bild auf der Karte: eine romantische Berglandschaft, Hügel bis an den Horizont und im Vordergrund eine lächelnde junge Frau in offensichtlich traditioneller Kleidung, mit einem gut gefüllten Obstkorb im Arm. Wer zum Henker schickte ihm diese Karte? Diszipliniert wie er war, wartete er, bis er in seiner Wohnung war, und las dann:
„Hey Alter! Na rate doch mal, von wem diese Karte ist! Hängst du immer noch im versifften Berlin rum? Ich habe den Absprung geschafft und arbeite jetzt an der Uni in Tirana. Voll gut! Weißt du noch, wie wir als Kinder gewettet haben, wer es weiter bringt, du oder ich? Tja, war wohl nix, Andilein!“
Verwirrt starrte Andreas auf die Zeilen. Das konnte nur eine geschrieben haben: Seine dreiste Cousine Lara. Du lieber Himmel! Sie hatte ihn schon immer aufgezogen, weil er wohl erzogen am Tisch sitzen blieb, während sie nach dem Essen aufsprang und in den Garten rannte. „Göre!“, hatte seine Mutter dann immer gezischelt. Er aber war ihr später nach draußen gefolgt und hatte sich willig und fasziniert all ihren verrückten Wünschen gebeugt. Als sie dreizehn waren, musste er ihr Informationen über die Beschaffenheit des männlichen Körpers beschaffen. Noch jetzt wurde er schamesrot, wenn er an diese Begebenheit im Gebüsch zurückdachte! Obwohl es eigentlich nicht wirklich schrecklich gewesen war … Lara hatte ihm damals Dinge über Mädchen verraten, die ihn tief beeindruckt hatten. Und jetzt war sie in Albanien? Wow. Er schloss die Augen und stellte sich dieses fremde Land vor. Sicher, Armut und Schmutz gab es. Aber auch schöne Landschaften und Einsamkeit und das Meer. Ob er sie einmal besuchen sollte?

Er erinnerte sich nicht mehr genau an den Zeitpunkt, zu dem ihm seine japanischen Mitschüler richtig verhasst wurden. Warum mussten sie ihn auch quälen, ihn aufziehen wegen seiner Andersartigkeit? An der Sprache lag es nicht, denn Japanisch beherrschte er fließend. Aber er dachte anders als sie: viel japanischer und traditioneller als irgendeiner unter ihnen. Während sie mit den Mädchen rummachten und in Discos rannten, verbrachte er die Zeit im Tempel bei seinem Meister. Er half ihm die Bäume zu stutzen und die Stufen zum heiligen Raum zu kehren. Doch eines Tages musste er dieses Land verlassen, und einen Teil davon nahm er mit sich: Wenn er die Augen schloss, konnte er den abendlichen Singsang des Süßkartoffelverkäufers mit seiner Karre wieder aufleben lassen. Und er sah sich als kleinen Jungen hinter dem alten Mann herlaufen und eine große, heiße, rote Kartoffel erstehen, in Zeitungspapier eingewickelt, die er dann stolz seiner Mutter heimbrachte.
Vorbei, für immer. Und doch würde er durch seine Taten zumindest etwas vom Guten nach Deutschland bringen. Sein Schwert musste eben sprechen, wenn sonst nichts nutzte!

Andreas war bis zum Abend guter Laune. Eine Karte aus der Ferne! Und die Sonne schien so unglaublich, dass Berlin vielleicht sogar mit Albanien mithalten konnte. Und irgendwo in den USA hatte es am Vortag Schneestürme gegeben! In seinem Überschwang überlegte er sogar für eine Sekunde, ob er Eisbärbaby Knut im Zoo besuchen sollte – doch nein, den Massenandrang würde er sich nicht antun. Stattdessen beschloss er, noch einen besinnlichen Abendspaziergang über den Friedhof zu machen. Nirgends gibt es so viel Grün an der Hermannstraße wie dort. Dumm nur, dass er schon nach wenigen Metern in diesem Grün angebrüllt wurde: „He Sie, wir schließen aber gleich!“. „Ich weiß, in zwanzig Minuten!“, versuchte er zurückzubrüllen, aber sie schien versessen darauf zu sein, ihn aufzuhalten. Da gab er betrübt seinen Plan auf und kehrte um. Die Frau mit ihren zwei Hunden (Auf dem Friedhof!) starrte ihn gimmig an und er zog wie so oft den Kopf ein. Nur keinen Ärger.

Das Schwert sauste surrend durch die Luft und trennte den Kopf so schnell von seinem Körper, dass noch ein überraschtes Lächeln auf dem Gesicht zu liegen schien, als er schließlich zwischen den Gräbern landete. Wieder war der Gerechtigkeit Genüge getan.

Andreas 26

Mittwoch, 11. April 2007

An diesem Tag war Andreas besonders bekümmert. Nicht nur, dass ihn die Osterferien langsam langweilten (es machte wohl doch auch etwas Spaß, die lieben Kleinen zu quälen), nein, er hatte auch das Gefühl, an seine persönlichen Grenzen zu stoßen. Denn es gab eine Zutat für den perfekten Krimi, die ihm wirklich Sorgen bereitete, eine Zutat, die Millionen von Lesern liebten, unverständlicherweise: der Humor. Er sah sich ratlos in seiner Wohnung um. Ordentliches Bücherregal. Nippes von Mama, das er nach ihrem letzten Besuch (wie lange war das jetzt schon her?) vergessen hatte, wieder beiseite zu schaffen. Sein Schreibtisch überhäuft mit noch zu korrigierenden Texten und Übungsblättern, die er sich über die Feiertage runtergeladen hatte. Wo kriegt man Humor her?, fragte er sich verkrampft. Na gut, die schwedischen Krimis waren auch nicht übermäßig spaßig und doch erfolgreich. Trübe Ausblicke auf die einsame Winterlandschaft um gewisse Orte, die jetzt schon Touristenattraktionen waren, nur weil Kommissar Wallander dort gewandelt sein sollte. Dröge Häuserzeilen und verweifelte Einzelschicksale – nein. Die englischen Autoren, ja, die hattens schon besser drauf. Überraschende Entwicklungen, ironische Beschreibungen selbst der Opfer, ein schwuler Pathologe, der dem unangepassten Kommissar gerne näher kommen würde … wie lernte man das? Ach ja, auch sein Problem mit der Annäherung Kommissarin – Mörder war noch nicht gelöst.

Noch immer war die junge Kommissarin in dem japanischen Garten. Langsam war sie auf die kleine Holzbrücke gewandert und lehnte sich nun an das verzierte Geländer, um auf die Nachbildung eines buddhistischen Tempels zu blicken. Er war die ganze Zeit hinter ihr geblieben, das konnte sie spüren. Wie hatte sie ihn eigentlich gefunden? Oder war er es, der sie aufgespürt hatte? Es war klar gewesen, dass der Treffpunkt hier sein würde.
Sie schloss die Augen und ihre Hände umschlossen noch fester die starken Holzstäbe, als würde sie sonst den Boden unter den Füßen verlieren. Er trat direkt hinter sie und konnte den Hauch ihrer Haare riechen. Wie konnte jemand eine solch rote Mähne haben? Fast berührte er sie, aber nur fast. Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme vernahm, die tiefer klang, als sie es erwartet hätte.
„Man muss früh am Morgen hierher kommen, da ist es völlig leer. Nur ein einzelner Gärtner zieht die Linien im Sandgarten nach.“ Sie erschauerte mit einem Mal und wusste nicht warum. Und sie hatte alle Lust verloren, diesen Menschen der Staatsgewalt zu übergeben. „Kommen Sie oft hierher?“, wagte sie es schließlich, das Wort an ihn zu richten. Er aber schwieg nur, und als sie nach etlichen Minuten endlich den Mut hatte, sich umzudrehen und ihm in die Augen zu blicken – da war er verschwunden.

Andreas fühlte sich ganz plötzlich ganz einsam. Warum gab es eigentlich niemanden, der ihn verstand? Außer seiner Mutter natürlich. Ja, er würde der jungen Frau unten im Haus (N. Müller?) einen Brief schreiben! Er würde über das Missverständnis neulich im Hof sprechen. Und über den Frühling, über die japanische Zierkirsche hinter ihrem Haus, über all die Blüten und Bienen … Was ihn wieder an seinen Heuschnupfen erinnerte und an seine Tropfen. Er ging ins Bad. Rote Augen, rote Nase. Mist.

Andreas 25

Dienstag, 10. April 2007

Allmählich störte ihn die Vorstellung, dass eine Horde von Polizeibeamten seine japanisch-deutsche Schöpfung jagen und stellen sollte. Wieso eigentlich? Zugegeben, Kommissarin Nina war schon ordentlich sexy, da gönnte man ihr auch mal Erfolg im Beruf. Aber die anderen, die Dumpfbacken? Die verstanden doch gar nicht, worum es in Wirklichkeit ging! Um die heilige Rache am Bösen schlechthin!
In diesem Moment hätte Andreas seinen Traum am liebsten aufgegeben und die Sache mit dem Krimi ad acta gelegt. Überhaupt: Ein solider Arztroman mit Liebe und Schmalz, Schwarz und Weiß – wäre das nicht viel sinnvoller? Aber nein, er war der Idee schon zu sehr verbunden. An diesem Dienstag war er sogar extra in die Amerikanische Gedenkbibliothek gegangen, um sich über Japan kundig zu machen. Auch mit einem Dozenten der Japanologie hatte er schon telefoniert und einen Termin ausgemacht. Ja, gut recherchiert musste schon werden! Aber was würde mit seinem Mörder-Helden passieren?

Nina spürte, dass jemand hinter ihr stand, doch drehte sie sich nicht um. Denn sie wollte ihn nicht verlieren, diesen einzigartigen Moment der Verbundenheit. Sie stand im japanischen Wald der Geborgenheit, und dort hatte sie ihn auch erwartet. Würde er es wagen, mit ihr zu sprechen, womöglich seine Taten zu gestehen?

Hm. Wie stellte er, Andreas, es an, dass sich ein grimmiger Held mit Mordgewohnheiten einer flippigen Kommissarin annäherte? Darüber würde er noch eine Weile nachdenken müssen – erst einmal gönnte er sich einen seltenen Döner ganz in der Nähe der Bibliothek. Heute sogar: Dürüm Döner mit extra scharfer Soße. Was er dann aber schnell bereute.