Ich sitze in der U9 und betrachte geistesabwesend die einsteigenden Fahrgäste, als mir einer auffällt, der gar nicht zur Tür geht, sondern einfach auf die U-Bahn zu. Mit seinem Stock tastet er sich dann sofort die Fenster entlang, bis er zur Tür kommt und einsteigen kann. Ein schlanker, ernster Mann, ganz offensichtlich völlig blind. Er sucht sich einen Sitzplatz, indem er mit seinem Blindenstock blitzschnell die Plätze erfasst und sich dann mitten in die Reihe auf einen freien Platz setzt. Den (wie immer besetzten) ersten Platz, der für besondere Fälle reserviert ist, den beachtet er gar nicht. Das ist er wohl gewohnt.
Ich bin beeindruckt. Wie ist das, wenn man U-Bahn fährt und überhaupt nichts sieht? Ich habe nicht den Eindruck, als wären die ganzen Bahnsteige und Wege besonders behindertengerecht. Im Gegenteil, überall lauern Fallen! Was ich aber am schwierigsten finde: Sich ständig beobachtet fühlen zu müssen, ohne sich dagegen wehren zu können. Er kann nicht zurückstarren, er kann sich nicht orientieren, er ahnt nicht, ob vielleicht ein ekliger Irrer neben ihm sitzt, neben den sich sonst niemand gesetzt hätte! Na gut, die Nase funktioniert ja bestimmt. Trotzdem. Blindsein muss auch ein Gefühl der Ausgeliefertheit hervorrufen, mit dem man erstmal klarkommen muss! Ich stelle mir vor, wie ich mich, plötzlich erblindet, völlig zu Hause verkriechen würde. Und ich stelle mir auch vor, wie ich, mit verbundenen Augen, diese Fahrt machen würde und dann schließlich schreiend die Binde von den Augen reißen würde.
Die Fahrt geht weiter, und schließlich steigen wir aus. Der Blinde auch am Zoo, und ich kann sehen, wie er sich sicher durch die unsichtbare Welt bewegt. Ich bewundere ihn!
Ach ja, ist „blind“ überhaupt politisch korrekt?, geht es mir durch den Kopf. Taub darf man ja auch nicht mehr sagen, das ist jetzt gehörlos. Also vielleicht „sichtlos“? Nee, klingt nicht gut. Und bei diesen ganzen Überlegungen merke ich, wie unsicher ich mit diesem Thema umgehe, während er, der Blinde, zielsicher durch Berlin fährt.
Wenige Tage später. Diesmal will ich mit meiner Ringbahn fahren, steige ein, setze mich und wundere mich über eine Frau, die völlig ziellos über den Bahnsteig stolpert, bis ein Junge (danke!) sie in die S-Bahn führt, die schon wieder losfahren will. Verwirrt klammert sie sich an eine Stange und ich helfe ihr dann schließlich zu einem Platz, weil sonst niemand Lust dazu hat. Wir sind schließlich in Berlin.
Auch beim Aussteigen ist sie völlig hilflos, die Umstehenden sind ebenfalls verunsichert, sie piekt mehrere mit ihrem Stock und scheint völlig überfordert. Wie kann das sein? Warum ist sie dann ganz allein unterwegs, blind, hilflos? Ich verstehe das alles nicht. Aber eins habe ich gelernt: Blind ist nicht gleich blind. Diese Frau jedenfalls weiß, dass sie sich auf ihre Art fallenlassen kann; irgendwie kommt sie schon ans Ziel.