Archiv für die Kategorie 'Fortsetzungsroman'

Tony 10 – Über Anstand und Sitte

Samstag, 09. Juni 2007

Tach Leute, musste doch mal wieder reinschaun, Franziska nervt schon seit ein paar Tagen … aber viel ist nicht los im heißen Berlin! Und G8 ist ja jetzt auch erledigt. Aber gestern in der S-Bahn wieder, ich sags euch! Alles hing verschwitzt in den Seilen, nur der eine Typ in seiner dicken Cordjacke dachte nicht ans Entblättern. Nö, er schlurfte seinen heißen Kaffee und war einfach nur dick eingepackt. Aufrecht und zufrieden. Daneben saß eine Omma, die wohl gerade einkaufen war: Jedenfalls zog sie raschelnd und knisternd eine Tüte vom Metzger aus der Tasche, machte das Wurstpäckchen auf, beäugte gierig ihre Lyoner und stopfte sich dann eine fette Scheibe in den Mund. Zur Hälfte. Als dann (ganz überraschend?) ihre Haltestelle kam, ließ sie die andere Hälfte aus dem Mund hängen, packte den Rest wieder weg und stürzte so raus. Leute gibts, sage ich euch … Der Gipfel war die etwa 35-Jährige mir schräg gegenüber. Trug einen Rock, der doch etliche Meter oberhalb des Knies schon beendet war, hockte sich aber hin, als wäre sie zu Hause in ihrer Schlabberjogginghose: Breitbeinig. Sehr breitbeinig. Ich frage euch: Muss das denn sein? Hat ihre Mutter vergessen ihr zu sagen, dass man sich mit einem Rock nicht soo hinsetzen darf? Ich fand das anstrengend. Schließlich muss mal dann immer krampfhaft irgendwo anders hinsehen; aus dem Fenster; ins Buch; auf ihre Beine. Verdammt! Auf die Weise stehe ich nicht auf Damenunterwäsche, ich finde sowas widerlich. Eine ältere Frau konnte ich beobachten, die wie gebannt auf die jüngere starrte; den Blick hob; wieder senkte. Sie schien protestieren zu wollen gegen so viel Anstandslosigkeit! Vielleicht bereitet es der Jungen ja ihre ganz spezielle perverse Freude, ihre Menschen auf diese Weise zu irritieren.
Ich sags euch … Schluss war dann, als eine dünne Stimme anfing, den ganzen Wagen zu übertönen. Erst dachte ich, da telefoniert jemand, oder die unterhalten sich laut, bis die Worte langsam an mein Ohr drangen. Eine hohe Jammerstimme: Bloß ein paar Cent, bitte bitte, ich hab solchen Hunger, ein bisschen Geld, ich bitte Sie, biiiittee! Immer wieder. Herzzerreißend. All meine wunderlichen Mitfahrer hörten mit einem Schlag auf, wunderlich zu sein. Der eine zog hastig die dicke Jacke aus. Die ältere Frau entspannte sich und wandte den Blick zum Fenster. Und die Junge verschloss endlich auf sittsame Weise die Abgründe unter ihrem Rock, als hätt es geklingelt; ohne dass ich noch einmal die Chance hatte herauszufinden, ob sie überhaupt Unterwäsche trug … Nur dem Bettler spenden wollte niemand.

Als ich dann ausstieg, war der kein uralter Greis nahe am Hungertod, sondern ein junger Mann, recht fesch und mit Pferdeschwanz. Nicht so richtig überzeugend, ehrlich gesagt.

Tony 9

Mittwoch, 30. Mai 2007

Hey Leute, keine Sorge, ich lebe noch! Aber finde ich echt nett, dass sich einige von euch schon Sorgen gemacht haben. Ehrlich gesagt hab ich mir auch Sorgen gemacht. Ich habe nämlich die ganze letzte Zeit, während andere Leute Partys feierten und lecker Qiche aßen, im Keller einer versifften WG gesessen. Wieso? Tja, die haben mich glatt eingesperrt! Widerlicher Keller, sage ich euch. Staubig und kalt und ich keine Ahnung, was mich erwartete. Entführung nennt man sowas! Völlig chaotischer Haufen, das. Laberten mich tagelang voll von wegen Heiligendingsda und Ärgermachen und so. Jeden Tag ging das raus aus dem Keller, Gequassel in der WG-Küche, Müsli und Döner. Die wollten doch tatsächlich, dass ich ihnen helfe, weil meine Fingerabdrücke und Taschentuchdüfte noch nirgend eingetütet seien. Na denen habe ich was gehustet! „Du musst dich doch für die Zukunft unserer Welt einsetzen“, hat einer gelabert. Was interessiert mich denn das? Eine Tussi sagte sogar, „Unsere Kinder werden es dir danken!“. Schwachsinn. Was soll das denn bringen? Und Kinder machen sowieso nur Lärm.
Gestern Abend bin ich denen dann endlich durch ein Kellerfenster entkommen. Frechheit. Mich entführen, und dann Hilfe wollen! Die haben doch nen Knall. Die Amis haben schon Recht. Ausstieg aus dem Ganzen! Jeder zieht sein eigenes Ding durch und schleudert seine Abgase in die Luft, dann ist sowieso bald Ruhe. Jawoll.
Außerdem finde ich es gut, dass zurzeit alle E-Mails und das Internet abgehört werden auf verdächtige Aktivitäten. Finde ich richtig beruhigend. Was wollte eigentlich der Putin von der Merkel, von wegen Überwachungsstaat? Hab ich nicht verstanden.

Wie man sich ganz schön mies fühlen kann, ohne entführt zu sein, habe ich heute auch bei Sumuze gelesen. Puh, sag ich da nur. Mir wurde richtig mulmig. Da sind doch ein paar Nächte Chaotenkeller ein Klacks!

Tony 8

Sonntag, 13. Mai 2007

Lästig ist, wenn man die Frauen erst bitten muss zu gehen. Gab heute noch eine ziemlich unhübsche Szene, aber mal ehrlich: Abends sehen die doch meist verdammt viel besser aus, oder? Außerdem will ich meine Hallen für mich; ich kann morgens sowieso kein Gequatsche ertragen, vor allem kein Weibergequatsche von wegen „Wollen wir uns wieder treffen?“ oder „Oh Tony, du und ich, weißt du, ich glaube …“ nee danke, da wird mir übel. Abends unterwegs läuft das ja immer ganz locker ab, auch die Schnecke von heute war völlig unverkrampft. „Was, du wohnst in einem Loft, oh cool, darf ich das mal sehen?“ Und dann später „Oh wow, da kriegt man ja richtig weiche Knie!“ hauchte die und warf sich mir an den Hals. Was soll man machen? Da sag ich doch nicht nein, oder? Aber wie gesagt, morgens ist dann Schluss mit lustig. Immerhin hat sie ja noch einen Kaffee gekriegt.
Ist schon komisch mit Hausbesuch. Meistens überlasse ich es ja den Ladys, ob was läuft oder nicht. Den großen Eroberer will ich schließlich nicht raushängen, kommt heutzutage auch nicht mehr sonderlich gut.
Nur ganz selten, da werde ich plötzlich schüchtern. Ich weiß, das könnt ihr euch jetzt nicht so gut vorstellen. Aber ganz selten gefällt mir eine. Dann rede ich auf einmal üblen Stuss, fasle was von meiner Asienzeit oder wo man in Berlin gute Lederklamotten herkriegt, echt schlimm. Und dann verschwindet die wieder, nix ist gelaufen und ich sitze da zwischen meinen Riesenwänden.
Aber davon wollte ich gar nicht erzählen, sorry! Bin dann spontan losgefahren, einfach nur raus; erst mit meiner U7, dann Naukölln einfach in die nächste S-Bahn, die so kam. War eine nach Spindlersfeld. Klingt gut, dachte ich. Das wurde auch tatsächlich immer grüner unterwegs, was will Mann mehr? Endstation: raus. Da stand ein Bus rum, okay, nehme ich, dachte ich. Und der fuhr am Schloss Köpenick vorbei, das wollte ich mir näher ansehen! Ich also raus. Und mitten ins tiefste Muttertagsgetümmel, ich habs mir so richtig gegeben! Mal nicht Neukölln. Bierchen am Spreeufer, launige Nachbartische mit Eisbein oder Rieseneisbecher. Spatzen, die auf Beute aus waren. Dann: an der Spree entlang, und da bietet sich doch tatsächlich auch noch ein Ausflugsdampfer an, mich Richtung Heimat zurückzuschippern. Mache ich. Die Muttchen wundern sich etwas über mein schwarzes Outfit, auch egal. Ich starre aufs Wasser und wundere mich über mich selbst.

Tony 7

Sonntag, 13. Mai 2007

Während ich heute in meinem Neuköllner Loft meine ersten Qi-Gong-Übungen des Tages absolviere, ruft ein völlig entnervter Andreas an. Eine Katastrophe! Er wisse nicht mehr aus noch ein! Mürrisch beruhige ich ihn und kann schließlich den Grund seiner Verzweiflung rauskriegen. Nein, die Polizei ist ihm noch nicht auf die Schliche gekommen. Und keiner hat seinen Roman verrissen, denn keiner hat den Ramsch gelesen. Nö, er hat einfach den Muttertag vergessen! Ich bezweifle zwar, dass das seine greise Mutter zur Kenntnis nimmt, empfehle ihm aber einen locker-flockigen Anruf, just in case: Vielleicht hat sie ja gerade heute ihren klaren Tag und wird ihm sonst für den Rest des Jahres gram sein?
Bin ich froh, dass ich allein bin. Dachte ich und wandte mich meinem Bett zu, in dem noch eine mir namentlich unbekannte Nixe schlummerte. Vielleicht muss die ja auch noch an ihre Mutter denken?

Tony 6

Samstag, 12. Mai 2007

Manche in meinem Bekanntenkreis meinen, ich erscheine wie ein grimmiger Geist, wenn ich so in meinem langen, schwarzen Ledermantel die Straßen Neuköllns durchwandere. Alles Quatsch. Ich bin kein Geist. Sie können mich alle sehen, das ist doch schon Beweis genug. Und wenn sie mich sehen und dabei ganz zufällig an den Mist denken, den sie gerade bauen, dann solls mir recht sein.
Gestern U 9, Bundesplatz: Wieder einer dieser Fahrgäste, die die U-Bahn nur rauchend erwarten können. Manche werfen ihre Zigarette wirklich erst im letzten Moment in den Mülleimer, als würden sie an ihrem Glimmstängel festkleben. Immer wieder fangen dann die Mülleimer an zu rauchen, weil brennende Zigaretten und alte Zeitungen eine ungute Verbindung eingehen. Für einige ist der Gestank dann so beängstigend, dass sie sich nicht auf den Bahnsteig wagen. Gestern aber: Die U-Bahn fährt ein, Ansage, Leute strömen, der Typ will die Zigarette wegwerfen – und schafft es nicht. Ein paar bleiben kurz stehen, um das Schauspiel zu beobachten: Ein Mensch, der wie wild mit der Hand in der Luft herumfuchtelt, zu schreien anfängt, zu hopsen, aber die Zigarette löst sich nicht von seiner Hand! Dann steigen auch die letzten bedauernd ein; schade, sie hätten gerne noch eine Weile dieser interessanten Vorführung zugesehen, wofür der wohl werben wollte? Auch ich fahre mit leisem Bedauern weiter, „zurückbleiben bitte!“.

Tony 5

Donnerstag, 10. Mai 2007

Es gibt Menschen, denen es eine grimmige Freude bereitet, andere zu quälen. Keine Ahnung warum. Heute in der Ringbahn zum Beispiel: Der Typ dreht seine Beschallung lauter. Und noch lauter. Bis wirklich alle wissen, dass er ein Freund von Technomusik ist. Man mag ja in solchen Momenten entzückt die Augen schließen und an die letzte Techno-Party auf Bali denken, 48 Stunden durchgetanzt, wenn einem sowas gefällt. Mir nicht. Ich sehe ihn an, ohne dass er mich bemerkt. Und was passiert? Sein süffisantes Dauergrinsen verschwindet. Stattdessen verzieht sich sein Gesicht immer schmerzhafter. Er reißt die Kopfhörer von den Ohren, schreit laut auf. Trampelt verzweifelt auf seiner Musikquelle herum und stürzt beim nächsten Halt aus der S-Bahn. Die anderen Fahrgäste sehen ihm nach, nicht unbedingt mit Bedauern. Und auf allen Gesichtern breitet sich ein kleines, zufriedenes Lächeln aus. Ruhe.