Für Noemi war es eigentlich kein Problem, abends oder nachts noch mal schnell den Müll rauszubringen. Doch an diesem Abend war es anders. Sie hatte ein bisschen zu lange ferngesehen und auch ein bisschen zu lange mit dem Müll gewartet – jetzt quoll die Tonne über, und sie wollte nicht bis zum nächsten Morgen warten. Zumal sie am Vortag einige Zwiebeln geschnitten hatte (für eine Quiche mit Blätterteig und viel Käse), jedenfalls müffelte es jetzt in der ganzen Küche. Es war halb zwölf, und im Haus war schon alles ruhig. Die Stedlers von oben hatten sich heute nicht angebrüllt, was vielleicht an der besänftigenden Märzsonne gelegen hatte. Und der Wunderling – wie hieß er noch? – Knäppling, ja, Andreas Knäppling, von dem war wie immer auch nichts zu hören. Das türkische Pärchen von gegenüber war wohl noch unterwegs; jedenfalls war alles ruhig.
Später würde sie sich diese Minuten immer wieder ins Gedächtnis rufen: Die Angst, die sie dort im Hof gleich würde ausstehen müssen, würde sie nie wieder vergessen. Aber das konnte sie noch nicht ahnen, als sie die Mülltüte zuknotete.
Oben im zweiten Stock stand Andreas wieder einmal am Fenster und starrte auf den Hof. Auf das kleine Fabrikgelände dahinter, mit seinen Ballen und Stapeln, die um diese Zeit etwas Gespenstisches hatten. Er musste etwas unternehmen, dachte er gerade. Etwas in seinem Leben musste sich ändern. Da sah er sie. Seine Lieblingsnachbarin Nina, oder wie auch immer sie hieß. Sie ging wohl gerade zu den Mülltonnen; komisch um diese Tageszeit. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals? Vielleicht war heute endlich der Moment gekommen, da er sie ansprechen konnte? Hastig ergriff er seinen halbleeren Müllbeutel (einen Vorwand brauchte man schließlich) und schlich die Treppe hinunter. Er wollte sie ja nicht mit Getrampel erschrecken. Ganz natürlich wirken. „Ach, Sie auch hier, ha ha, ja der Müll …“. Sein Herz schlug ungewohnt heftig.
Noemi blieb im Hof noch einen Moment stehen und lauschte in die Nacht. Es war ein wunderbarer Tag gewesen, 18 Grad hatten sie im Fernsehen gesagt, und auch sie hatte sich zehn Minuten mit einer Kollegin in der Eisdiele an der Hermannstraße gegönnt. Jetzt war alles still, auch die Fabrik hinter dem Zaun dröhnte nicht mehr. Ein leises Rascheln im Gebüsch – eine Katze vielleicht. Sie atmete tief durch. Und da spürte sie es. Hinter ihr. Fremd und beunruhigend, und doch wagte sie nicht, sich umzudrehen. Augen zu, dann geht es weg. Aber es blieb, und die Angst kroch langsam in ihr hoch. Sie war allein. Und sie würde nun sterben müssen, ganz schnell, ein Messerstich vielleicht, eine Schlinge um den Hals, und am nächsten Morgen ihre Leiche im Hof. Sie wollte schreien, sich endlich umdrehen, irgend etwas tun. Und doch blieb sie wie gelähmt stehen und starrte weiterhin auf die riesigen Ballen mit Dachpappe vor sich.
Andreas konnte sein Glück nicht fassen. Sie musste gerade ihre romantischen fünf Minuten haben! Jedenfalls schien sie versunken zu sein in die Ruhe des nächtlichen Hofs, und er wollte diese Frühlingsruhe mit ihr teilen. Voller Freude schloss er die Augen und hörte nur sein eigenes Herz schlagen.
Sie fühlte, wie ihr übel wurde. Nur einmal, in ihrer Kindheit, hatte sie eine solche Angst ausgestanden, und damals war dann die Mutter dagewesen und hatte sie beruhigt. Jetzt hatte sie niemanden, und sie bereute mit einemal, hier allein in diesem Neuköllner Altbau zu wohnen, fern von der Familie. Sie stellte sich die Schlagzeilen in den Zeitungen vor: Mord im Neuköllner Hinterhof! Leiche zwischen Mülltonnen gefunden!
Da, gerade, als sie sich endlich umsehen wollte, legte sich eine kalte Hand auf ihre Schulter. Jetzt kam das Ende.
„Spürst du auch diese Nähe, diese Intensität?“, wollte Andreas flüstern, aber er traute sich nicht. Stattdessen legte er einfach nur schweigend und sanft eine Hand auf ihre Schulter, ein Zeichen der Verbundenheit. Da schrie sie auf! Was sollte das? War die denn übergeschnappt? Er machte entsetzt einen Schritt zurück.
Endlich konnte sie sich aus dieser Starre befreien, endlich konnte sie schreien! Sie wandte sich um und – hielt verblüfft inne. Der? Dieser Langweiler vom zweiten Stock? Sie konnte es nicht fassen. „Sind Sie eigentlich völlig durchgeknallt, mir hier so nachzustellen?“, fauchte sie ihn wütend an. Er glotzte nur blöd und sie schob ihn schließlich einfach zur Seite und ging wieder zurück in ihre Wohnung. Der Abend war ihr versaut.
Andreas blieb zurück wie ein getretener Hund. Ja hatte sie denn nicht auch diese wunderbare Zweisamkeit gespürt, diese innige Dunkelheit um sie beide? Er ließ seinen Müllbeutel einfach fallen und schlich bekümmert die Treppe hinauf. Weiber. Hysterisch, alle miteinander. Erst Romantik und dann Schreierei. Wie er sowas hasste. Aber das würde ihm nicht noch einmal passieren!
Später im Bett malte er sich seine Lieblingskomissarin aus, wie sie einen Dämpfer in ihrem Selbstbewusstsein bekam. Wie schön, wenn man diese Macht über andere Menschen hatte, auch wenn sie nur ausgedacht waren!
Nina konnte nichts so leicht schrecken, doch als um Mitternacht dort mitten im Park dieser muskulöse Typ direkt vor ihr auftauchte, wurde sie still. Sie ahnte, dass sie auf jemanden gestoßen war, dem sie nicht das Wasser reichen konnte. Er griff kalt nach ihrem Arm und zog sie zu sich. Sie ließ es geschehen und nur ein Seufzer kam über ihre Lippen.
Moment mal, er wollte doch einen Krimi schreiben, keine Schmonzette. Andreas drehte sich ärgerlich auf die andere Seite und starrte die Wand an. Dieser „Nina Müller“ von unten musste er noch eine Lektion erteilen. Eines aber hatte ihm gefallen: Dass jemand Angst vor ihm gehabt hatte. Ob man das wiederholen könnte?