Archiv für März 2007

Andreas 9

Sonntag, 25. März 2007

Wenn Noemi abends heimkehrte, war sie einfach nur froh, niemanden sehen zu müssen. Immer nur lächeln, immer funktionieren – es war ihr oft eine Qual. Deshalb kickte sie jedes Mal betont schlampig ihre eleganten Schuhe in die Ecke, nahm ihre Schlabberhose vom Vorabend auf und hängte das Edelkostüm in den Schrank. Dann: Ein Bierchen und die Fernbedienung. Das brauchte sie.

Von all dem ahnte Andreas zwei Stockwerke über ihr natürlich wenig. Er brauchte seine Korrektheit noch bis in den letzten Küchenwinkel. Auch wenn niemand diesen je zu sehen bekam. Er war an diesem Tag besonders frustriert, obwohl es eigentlich ein sonniger Märztag gewesen war und er mit dem Fahrrad unterwegs. Seinem alten chinesischen „Fliegenden Adler“, den ihm ein Studienkollege überlassen hatte, vor Jahren. Die Neuköllner Karl-Marx-Straße war er ein Stück weit auf dem Bürgersteig gefahren, denn da gab es keinen Radweg, und die Autos fuhren lebensbedrohlich. Noch bedrohlicher war allerdings eine Mutter Andreas gegenüber gewesen, deren Kind fast vor sein Rad gehüpft wäre. „Können Sie nicht aufpassen? Idiot! Das hier ist kein Radweg!“, hatte sie ihn angeschrien. Andreas war sofort abgestiegen und wollte ihr erkären, dass doch Platz für alle und so weiter. Keine Chance. Sie hatte sich vor ihm aufgebaut und seine Lenkstange festgehalten. Ihm hasserfüllt in die Augen gestarrt und gezischt: „Wenn du meinem Kind auch nur ein Haar gekrümmt hättest, Scheiß Radler, dann hätte ich dich fertiggemacht. Merk dir das für die Zukunft, Alter.“
Er war erschüttert heimgefahren und der Tag ihm verdorben. Jetzt, am Abend, sehnte er sich nach einer freundlichen Stimme, nach etwas Menschlichkeit. Sollte er nicht einmal unten bei dieser N. Müller klingeln. Nina, bestimmt, so musste sie heißen. Aber er hatte wieder einmal nicht den Mut und dachte stattdessen an die Bedrohungen dieser Welt.

Manchmal war Nina, die junge Kommissarin, auch mit ihrem geliebten Rad unterwegs. Dabei fühlte sie sich stark. Unabhängig. Und gesund. Sie durchquerte die Stadt mit wehenden Haaren und kümmerte sich nicht um zögerliche Fußgänger oder verrückte Autofahrer. Ihr gehörte die Straße! Bis zu jenem Tag, als dieser Kerl vor ihr auftauchte. Woher, konnte sie später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Plötzlich stand er in ihrer Bahn, sie war gerade auf der Friedrichstraße unterwegs und wollte zum Gendarmenmarkt hinüber zu einem Stück Kuchen … Er war ganz in schwarzem Leder. Fuchterregend. Schwarze, struppige Haare. Und dieses Maschinengewehr in der Hand. Was wollte der? Er hielt sie an und legte seine schmutzigen Hände auf ihre Lenkstange. „Hey, Puppe. Nicht so schnell. Das mag ich nicht.“ Sie runzelte unwillig die Stirn. Was sollte das nur? „Lassen Sie sofort mein Fahrrad los!“, fauchte sie ihn an. Aber er war nicht zu beeindrucken. Lachte bösartig und legte dann an. Die Waffe war direkt auf sie gerichtet. „Das wars dann wohl!“, kam noch über seine Lippen. Das war das Letzte, was er von sich gab.

Andreas war nicht zufrieden. Er hasste Gewalt! Auch sein zukünftiger Mörder musste ganz subtil vorgehen. Kein Krawumm! Schleichende Angst bei Leser und Opfer im Werk selbst. Außerdem wollte er auf verschiedenen Ebenen schreiben, das kam gut an! Einerseits der Kommissar/ die Kommissarin / das Opfer. Andererseits Gedanken des Mörders / der Mörderin, die in Abgründe blicken ließen und doch auch die grausamste Tat verständlicher machten. Hm. Mörder oder Mörderin?

Andreas 8

Freitag, 23. März 2007

Nina lehnte sich genüsslich zurück und wusste wieder einmal, was ein guter Tropfen war: der Chateau Labergluck dü Papp belebte ihre Lebensgeister und sie warf endlich auch einen Kennerblick auf den Mann, der ihn ihr vorgesetzt hatte.

Ganz wichtig ist es, so dachte Andreas und biss dabei von seinem Leberwurstbrot ab, den Leser davon zu überzeugen, dass er mit dem Krimi auch Klasse geliefert bekommt. Die richtigen Weinsorten müssen ganz selbstverständlich mit einfließen, und natürlich sind es die richtigen Leute, die das Zeug zu schätzen wissen. Mörder oder Polizeipräsidenten hingegen tranken Bier und Apfelsaft.
Auch Latein- oder Griechischsprüche, immer wieder in wichtigen Situationen platziert, zeigen ganz klar, dass der Autor ein gebildeter Mensch ist, nicht irgendein Wald- und Wiesenschreiberling. So ging es ihm durch den Kopf, während er zu seinem Fernsehsessel ging. Zeit für die Nachrichten.

„Carpe diem“, hauchte sie sanft und winkte ihn zu sich her. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie ja noch nicht wissen, dass er ganz andere Dinge für diese Nacht geplant hatte als sie. Er erhob sich und ging in die Küche.

Andreas 7

Mittwoch, 21. März 2007

Ein anständiger Krimi musste vielschichtig sein, das war ihm klar. Die Kommissarin durfte nicht nur jung, frech und sexy sein, sondern die musste auch echte Macken haben. Vielleicht einen kriminellen Vater? Oder einen, der sie von Anfang an als perfektes Wesen hatte aufziehen wollen, ein vertrockneter Griechischlehrer beispielsweise? Ach nein, das ergab dann eine Mörderin.
Andreas wartete auf seinen Zug. „Achtung, wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit, hier eine Suchmeldung. Gesucht wird ein neunjähriges Mädchen. Sie trägt Hellblau und Rosa.“ Er schreckte aus seinen Gedanken auf. Ein Kind verschwunden? Verzweifelte Eltern, die nicht wussten, was mit ihrer Kleinen war? Auch wenn er im Unterricht manchmal fast wahnsinnig wurde mit den Kindern – das ging ihm doch nahe. Genau in diesem Augenblick richteten sich wohl alle Blicke in der Stadt auf alle kleinen Mädchen in Hellblau und Rosa. Vielleicht rückten auf diese Weise die Menschen wieder ein wenig zusammen und halfen einander?

Nina, die junge Kommissarin, war früh morgens nicht unbedingt ansprechbar. In Ruhe lassen und in Ruhe gelassen werden, das war ihre Devise. So nahm sie zunächst auch nicht das kleine Mädchen wahr, das einsam am Straßenrand saß und auf die Autos starrte, die spritzend durch den Regen rasten. Doch irgendetwas ließ sie dann doch innehalten. War sie nicht auch einmal vor langer Zeit so dagesessen? Eine Erinnerung wollte in ihr hochkriechen, die sie nicht wahrhaben wollte. Sie machte einen Schritt auf das Mädchen zu – eher, um sich selbst abzulenken, als um das Kind zu stören. Die Kleine trug eine hellblaue Jacke und eine auffällige Hose in Pink. Nina setzte sich schließlich neben sie, obwohl es da bestimmt nicht sonderlich sauber war. „Ganz schön ungemütlich, was?“, brummte sie. Das Kind reagierte nicht. „Und, keine Lust, zur Schule zu gehen?“ „Ich geh da nicht mehr hin, nie wieder.“, flüsterte das Mädchen nach einer ganzen Weile. Nina griff zu ihrem Handy.

Andreas 6

Dienstag, 20. März 2007

Ein spannendes Buch, so dachte Andreas, ist wie ein angenehmer Begleiter, auch wenn es einen manchmal quält: Beim Arzt erleichtert es das Warten, ein guter Ersatz fürs Händchenhalten. Unterwegs in der S-Bahn verkürzt es die Fahrt – wer will da noch ein Gespräch? Und abends hilft es beim Einschlafen. Es sei denn, es ist zu spannend, dann hält es einen davon ab.
Andras saß mal wieder in der S-Bahn und ließ Berlin an sich vorbeigleiten. Flughafen Tempelhof. Der Mord bereitete ihm noch Kopfzerbrechen. Warum mordete jemand? Simple Eifersucht, schlichte Geldnot oder Wut wegen einer ungerechten Entlassung waren ihm zu langweilig für sein Buch. Das musste komplizierter werden, das sollte seine Leser umhauen. Allerdings hauten seine Ideen bis jetzt nicht einmal ihn selbst um.

Sabine Mehringer war gerne Hausfrau. Auch wenn ihre Freundinnen ihr ständig zurieten, sich einen netten Job zu suchen: Sie kümmerte sich lieber um die Schulbrote der Kinder und um die Wäsche auf dem Hängeboden. So auch heute. Gut gelaunt stieg sie die Treppe zum Dachboden hoch; blickte im Treppenhaus noch einmal aus dem Fenster hinunter auf die kleine Fabrik mit ihren paar Arbeitern. Wurde fast wehmütig dabei, als ahnte sie, dass sie zum letzten Mal diesen Weg ging.

Nein, viel zu positiv, dachte er.

Als Susanne Mehringdorf die Treppe zu ihrem Hängeboden hochstieg, ahnte sie noch nichts davon, dass dies das letzte Mal war. Ihr Wäschekorb war schwer und wieder einmal verfluchte sie ihr Leben. Wozu war sie denn noch gut? Nur noch zum Wäscheaufhängen? Selbst ihr Mann beachtete sie schon lange nicht mehr. Sie lebten sprachlos nebeneinander her und keiner wusste mehr etwas vom anderen.
Das Licht im Treppenhaus ging aus. Mist, warum war der Zeittakt immer so kurz eingestellt? Sie stellte schnaufend den schweren Korb ab und sah sich nach dem nächsten Lichtschalter um.

Viel zu praktisch, ging ihm durch den Kopf. Und die Ehe spielt eigentlich auch keine Rolle. Aber schön frustriert musste sie schon sein, sein nächstes Opfer!

Oben auf dem Dachboden wartete er bereits auf sie: Der Tod. Sie konnte ihre Wäscheleinen kaum noch erkennen, so dunkel war es schon. Sie tastete sich zu einem kleinen Wäscheständer und wollte gerade die Socken ihres Mannes –

„Nächster Halt: Innsbrucker Platz.“ Ärgerlich stieg er aus. Konnten seine Schüler nicht noch etwas warten? Er musste jetzt über Wichtigeres nachdenken! Es regnete.

Andreas 5

Montag, 19. März 2007

Kurz vor dem Einschlafen (22.30 Uhr, wie immer) stand Andreas noch einmal am Fenster und starrte auf die Straße. Wie hieß die Mieterin von unten nochmal? N. Müller. Nicht gerade dramatisch. Wofür stand wohl das N? Nina, das würde ihm gefallen. Seine erste Sandkastenliebe hieß Nina. Na eigentlich war er ihre erste Sandkastenliebe gewesen. Er hatte es damals mit einem wohligen Schauer über sich ergehen lassen, dass sie immer wieder so eigenartige Vorschläge anbrachte. „Du zeigst mir deinen und ich zeig dir meine“ oder so etwas. Ungute Erinnerungen an lange Gespräche mit Erzieherinnen und Eltern erwachten, wurden aber schnell verdrängt.

Nina von Müllersdorf, die knallharte/coole/ungewöhnliche Kommissarin, brauchte abends noch mal den besonderen Kick vor dem Einschlafen. In der Kneipe unten kannte man sie schon und freute sich, wenn sie aufkreuzte. Wer würde an diesem Abend das Glück haben? In solchen Zeiten vergaß sie gerne ihre adlige Herkunft. Was sie dann brauchte, war schlicht und einfach Sex.

Er runzelte die Stirn. Wie machte man das eigentlich, jemanden abschleppen? Sprach man/frau jemanden an und sagte dann: Hey, hättste nich Lust? Oder gab es noch die gute alte Briefmarkensammlung? Wohl kaum. CD-Sammlung vielleicht, oder jetzt wieder richtige Schallplatten. Wie Nina ihn wohl finden würde?

An jenem Abend war ein Neuer in der Kneipe: Eher der intellektuelle Typ, für den Nina eine gewisse Schwäche hatte. Sie setzte sich neben ihn und bestellte sich ein Bier.

Andreas wurde unruhig. Wie würde eine Frau ihn im Schlafzimmer finden? Ginge man zu ihm oder zu ihr? Er sah sich um. Nicht sonderlich einladend. Dann zog er sich aus und stellte sich vor den großen Schrankspiegel. Wohl auch nicht sonderlich einladend.

Andreas 4

Sonntag, 18. März 2007

Mitten in der Mathestunde hielt Andreas plötzlich inne und starrte die Klasse an. Kind für Kind. Was ging eigentlich in diesen Köpfen so vor sich, was dachten sie über ihn? Ahnten die überhaupt, dass da ein Genie vor ihnen stand? Aber dann musste er doch irgendwann mit dem Malnehmen weitermachen.

Das Sterben geschah still und im Verborgenen, und doch war es für Kommissarin Nina Bogner/Bogenmaier/Büré wie ein lauter Hilfeschrei des Mörders: Finde mich!

Heimweg. Zum ersten Mal fiel ihm ein Plakat auf, das Werbung für eine bekannte Frauenzeitschrift machte: Osterrezepte von Braten bis Torte. Osterdekoration für die perfekte Familie. Wie mache ich meinen Mann zu Ostern glücklich? Was waren das für Frauen, die sich um solche Ratschläge kümmerten? Ohne Zweifel Wesen von einem anderen Stern.

Die junge Kommissarin wusste, welchen Weg sie gehen musste. Diese Morde trugen eine ganz eigene Handschrift – eine Schrift, die nur sie entziffern konnte. Gelangweilt schob sie den Pathologen zur Seite und zog die Gummihandschuhe aus der Manteltasche.

Gegen fünf war er endlich zu Hause. Zunächst warf er noch einen Blick in den Briefkasten im Treppenhaus, und wie immer wartete er dabei eine Sekunde (einige Minuten), ob nicht die junge Mieterin vom Erdgeschoss ganz zufällig auch heimkehrte. Oder genau dann den Müll in den Hof bringen musste. Und er hatte Glück! Sie warf ihm einen kurzen, freundlichen Blick zu, als sie mit einer prall gefüllten Mülltüte an ihm vorbeiging. Sollte er sie jetzt ansprechen? Und schon war sie wieder weg. Ohne Interesse zu zeigen an einem angehenden Bestsellerautor. Dumme Tusse. Las die vielleicht auch, welche Osterdeko dieses Jahr angesagt war?

Oben in seiner Wohnung starrte er sich lange im Spiegel an: Etwas blass. Dunkelblonde Haare, genau diese unsägliche Massenfarbe, die manche Frauen mit Strähnchen aufzupeppen versuchten. Ob er vielleicht auch mal?? Außerdem musste er sich entscheiden, ob er in Zukunft zu den Intellektuellen mit ganz kurzem Stoppelhaar und Dreitagebart gehören wollte; oder zu den Denkern, die sich durchgeistigt durch die Mähne fuhren, während sie ihren Fans ihre Sichtweise erklärten. Lang, länger als jetzt, ja, das würde ihm gefallen. Was wohl die Kollegen dazu sagen würden, nach all den Jahren? Nun, ansonsten war er für seine 41 Jahre noch ganz schön fit. Zugegeben, ein kleiner Bauch. Aber wer hatte den nicht? Ein paar Fältchen, die sicher von Humor zeugten, auch wenn er den nicht immer rausließ. Schatten unter den Augen, die vom vielen Denken kamen, auch entschuldbar.

Er machte sich seine zwei Brote und den Malventee.