Andreas 6
Ein spannendes Buch, so dachte Andreas, ist wie ein angenehmer Begleiter, auch wenn es einen manchmal quält: Beim Arzt erleichtert es das Warten, ein guter Ersatz fürs Händchenhalten. Unterwegs in der S-Bahn verkürzt es die Fahrt – wer will da noch ein Gespräch? Und abends hilft es beim Einschlafen. Es sei denn, es ist zu spannend, dann hält es einen davon ab.
Andras saß mal wieder in der S-Bahn und ließ Berlin an sich vorbeigleiten. Flughafen Tempelhof. Der Mord bereitete ihm noch Kopfzerbrechen. Warum mordete jemand? Simple Eifersucht, schlichte Geldnot oder Wut wegen einer ungerechten Entlassung waren ihm zu langweilig für sein Buch. Das musste komplizierter werden, das sollte seine Leser umhauen. Allerdings hauten seine Ideen bis jetzt nicht einmal ihn selbst um.
Sabine Mehringer war gerne Hausfrau. Auch wenn ihre Freundinnen ihr ständig zurieten, sich einen netten Job zu suchen: Sie kümmerte sich lieber um die Schulbrote der Kinder und um die Wäsche auf dem Hängeboden. So auch heute. Gut gelaunt stieg sie die Treppe zum Dachboden hoch; blickte im Treppenhaus noch einmal aus dem Fenster hinunter auf die kleine Fabrik mit ihren paar Arbeitern. Wurde fast wehmütig dabei, als ahnte sie, dass sie zum letzten Mal diesen Weg ging.
Nein, viel zu positiv, dachte er.
Als Susanne Mehringdorf die Treppe zu ihrem Hängeboden hochstieg, ahnte sie noch nichts davon, dass dies das letzte Mal war. Ihr Wäschekorb war schwer und wieder einmal verfluchte sie ihr Leben. Wozu war sie denn noch gut? Nur noch zum Wäscheaufhängen? Selbst ihr Mann beachtete sie schon lange nicht mehr. Sie lebten sprachlos nebeneinander her und keiner wusste mehr etwas vom anderen.
Das Licht im Treppenhaus ging aus. Mist, warum war der Zeittakt immer so kurz eingestellt? Sie stellte schnaufend den schweren Korb ab und sah sich nach dem nächsten Lichtschalter um.
Viel zu praktisch, ging ihm durch den Kopf. Und die Ehe spielt eigentlich auch keine Rolle. Aber schön frustriert musste sie schon sein, sein nächstes Opfer!
Oben auf dem Dachboden wartete er bereits auf sie: Der Tod. Sie konnte ihre Wäscheleinen kaum noch erkennen, so dunkel war es schon. Sie tastete sich zu einem kleinen Wäscheständer und wollte gerade die Socken ihres Mannes –
„Nächster Halt: Innsbrucker Platz.“ Ärgerlich stieg er aus. Konnten seine Schüler nicht noch etwas warten? Er musste jetzt über Wichtigeres nachdenken! Es regnete.