Das weiß man ja: Jeder Mensch braucht einen gewissen Abstand zum Nächsten. Das ist abhängig von der Kultur (in anderen Ländern rücken sie einem mehr auf die Pelle) , aber auch von Ort und Zeit. In einer S-Bahn kann ich zu Stoßzeiten grauenhafte Massen ertragen und die wenigen Millimeter zu meinen unzähligen Nachbarn noch mit meinem unsichtbaren Schutzschild ausfüllen. Ist diese S-Bahn zu anderen Zeiten leer, so verteilen sich die routinierten Passagiere automatisch so, dass überall genug Zwischenraum ist. Gut zu erkennen ist das in diesen Fahrradabteilen, in denen sich lange Reihen gegenübersitzen. Typisch dort: Ein Platz besetzt, ein Platz frei, ein Platz belegt mit einer Tasche … nun aber passierte mir Folgendes: Die S-Bahn war so gut wie leer; ich setze mich in mein Eckchen in diesem großen Fahrradabteil, wirklich großräumig. Niemand sonst da – bis auf die Frau mittleren Alters, die nach mir einsteigt und sich direkt neben mich setzt, mit Tuchfühlung. Wie jetzt, warum nicht auf einen der zwanzig freien Plätze? Warum an mich gekuschelt, hä? Panik ergreift mich. So viel unnatürliches Verhalten ist verdächtig. Vielleicht will sie mich ausrauben? Oder sie ist psychisch krank und sucht ein Opfer? Fremd in der Stadt und will mich gleich ansprechen? Ich male mir Fluchtwege aus. Natürlich muss man sich in Berlin immer so bewegen, dass man gelassen und routiniert wirkt. Nur nicht auffallen! Touristen sind peinlich! Also bleibe ich sitzen und starre aus dem gegenüberliegenden Fenster. Dort sehe ich neben mir meine psychopathische Nachbarin. Sie blickt in eine andere Richtung. Warum? Auch ihre Ausstrahlung kommt mir von Minute zu Minute irrsinniger vor. Endlich kommt meine Station und ich kann (sehr sehr gelassen und ruhig) aussteigen. Draußen wische ich mir dann den Angstschweiß ab und das Zittern kann abklingen. Noch einmal davongekommen! Ich lebe!