Archiv für die Kategorie 'Fortsetzungsroman'

Tony 4

Mittwoch, 09. Mai 2007

Neukölln, ja Berlin hat etwas ganz Besonderes. Grüne Oasen, an denen Tiere leben, die man sonst nicht sieht. Es ist ruhig dort und keine Hunde hinterlassen ihre Berge. Keine Kinder schreien, keine Leute keifen (normalerweise), und die Luft ist so frisch gefiltert, dass man sich den Österreichurlaub sparen kann: Ich rede von den Friedhöfen. Hier in der Gegend kenne ich fast alle, aber natürlich habe ich meine Lieblingsecken. Ungestört kann ich da meinen Tai-Qi-Übungen nachgehen; Fotos von seltsamen Gräbern machen. Und den Toten zeigen, dass jemand über sie wacht, muss ja schließlich einer machen. Heute: Zwei Jugendliche, die mit extrem verdächtigen Bewegungen und Blicken zwischen den Grabsteinen herumhuschen. Sie sehen mich – und verdünnisieren sich panisch. Doch gut, dass ich immer schwarz gekleidet bin, nicht sonderlich klein und nicht sonderlich rasiert. Die zwei reagieren so ängstlich, dass ich mich doch frage, was sie angestellt haben oder was sie vorhatten. Sie bekommen einen langen Blick von mir hinterher geschickt, und plötzlich fangen sie an zu rennen. Man könnte meinen, beide hätten mit einem Mal Durchfall bekommen und müssten nun fluchtartig den Friedhof verlassen. Schade aber auch.
Ich beobachte noch ein Eichhörnchen, das sich nicht von mir stören lässt. In den letzten Jahrzehnten habe ich ehrlich gesagt schon viele Länder bereist – in Nicaragua drei Jahre rumgezogen, Kenia, Namibia immer wieder, China zwei Jahre, Japan fünf Jahre … aber die Neuköllner Friedhöfe sind einmalig. Vor allem die Eichhörnchen.

Heute Abend mal wieder Schachabend mit Andreas. Bin schon gespannt, was der wieder zu erzählen hat. Bier und Chips warten schon.

Tony 3

Mittwoch, 09. Mai 2007

Morgens in Neukölln: Ich beobachte mal wieder. Da sind die Zur-Arbeit-Geher, die mit hektischen Blicken signalisieren, dass sie ein Ziel haben und wahnsinnig wichtig sind. Arme Würstchen. Am schlimmsten die mit Krawatte oder Stöckelschuhen. An der Leine, eingezwängt den ganzen Tag!
Dann gibt es die eiligen Behörden-Gänger. Sie sind schon weniger korrekt gekleidet, haben aber oft diesen angespannten Blick: Wird mir das Wohnamt diesmal den Zuschuss gewähren? Muss ich noch eine Kopie zur Bundesagentur schleppen?
Dann gibt es die Verdächtigen und Untätigen. Schulkinder und Jugendliche, die zu dieser Zeit nichts auf der Straße verloren haben. Alkoholisierte, die sich nur noch mit Mühe an ihrer Bierflasche festhalten.
Und natürlich die senilen Bettflüchter, die eilig zur Supermarktkasse drängen, um dort dann ihre Cents zu zählen. Damit das Leben irgendwo noch einen Sinn hat.
Dazwischen natürlich ganz normale Chaoten, die das Leben genießen oder hassen, je nach Tagesstimmung. Türkische Hausfrauen. Künstler. Und mich, der immer auf der Suche nach einem guten Schnappschuss ist.
Was mir aufgefallen ist: Die Deutschen hasten aneinander vorbei. Türken kommunizieren miteinander und man kann das unsichtbare soziale Netz ahnen, das sie viel mehr miteinander verbindet als uns Deutsche. Im türkischen Supermarkt kann der (türkische) Kunde auch mal anschreiben lassen, wenn er nicht genug Geld dabei hat. Bei meinem türkischen Friseur scheine ich der Einzige zu sein, der die dort üblichen zehn Euro rausrückt: Noch nie habe ich dort sonst jemanden bezahlen sehen, und mein Schein ist vielleicht ganz einsam in der Kasse! Als ich neulich nur zwanzig Euro dabei hatte, konnte man mir leider nicht rausgeben … Wenn die Polizei hier versucht, türkische Jugendliche festzunehmen, sind blitzschnell die Ladenbesitzer auf der Straße und sehen nach dem Rechten, nach dem Motto „Darf die Polizei das denn?“. Beneidenswert, von so einem Netz aufgefangen zu werden.
Zwischen Karl-Marx-Straße und Reuterstraße, so ein Stück nördlich von meiner U-Bahn-Station Rathaus Neukölln, da ist ein Durchgang, ein schmaler Weg. Ein kleines Stückchen Türkei. Abends sitzen die Ommas mit ihren Wasserpfeifen schwatzend zusammen. Die größeren Jungs spielen Fußball und die kleinen Kinder haben einen netten Spielplatz, auf dem sie ungestört Unfug treiben können. Denn die Ommas und Mammas (Anes) wollen ihre Ruhe. Neulich dort bei einer der kleinen Holzhütten gehört, von einer etwa Fünfjährigen: Komm, wir gehen jetzt da rein und machen Sex!
Freudige Erwartungshaltung bei den anderen Kleinen. Süße Kinderchen, unschuldige Neuköllner Spielchen …

Tony 2

Montag, 07. Mai 2007

Was mir heute unterwegs nicht gefallen hat: Autofahrer, die extra an den Straßenrand fahren, um mich harmlosen Fußgänger zu durchnässen.
Drei Jungtussen, die wildest aufgemotzt in der S-Bahn tratschen und dabei ihrem Hass auf Türken freien Lauf lassen. Zitat „Ick hasse die Viecher.“ Dito.
Eine jüngere Frau, die mit ihren Klack-Klack-Schuhen die ganze U-Bahn-Station Heidelberger Platz zum Hallen gebracht hat. Macht denen das eigentlich Spaß, solche Schuhe zu tragen?
Versteht mich nicht falsch, ich bin ein Mann, der weiß Gott viele nicht von der Bettkante stoßen würde, aber manches bei den Frauen kann ich einfach nicht verstehen. Schuhe zum Beispiel. Oder die Frechheit! Wenn ich so auf Achse bin, beobachte ich immer wieder, dass eindeutig die Frauen die aggressiveren Leute unterwegs sind. Klar, Typen sind vielleicht lauter. Aber wenn mich Frauen manchmal anbaggern, muss ich mich schon wundern. Sicher, ich sehe nicht schlecht aus für meine fünfzig Jährchen. Haare noch schwarz und nicht sonderlich kurz. Meistens schwarze Lederhose und Lederjacke. Aber bin ich deshalb gleich Freiwild?
Übrigens: Andreas will mir das immer gar nicht so glauben. Ist ja nun wirklich kein Held, der Junge. Aber er hat angefangen, einen scheußlichen Arztroman zu schreiben. Richtig eklig, ist schon fast wieder gut! Ab und zu gibt er mir was davon zu lesen. Er hat ja sonst niemanden.

Schwester Irene war neu auf Station, aber sie wusste sehr schnell, wer der begehrteste Mann dort war. Nicht etwa Oberarzt Doktor Schellenbeck, nein. Der aufstrebende Jungarzt war es, Doktor Prätensius: Blond, breite Schultern, die zum Ausheulen geradezu einluden; ein dezenter Zweitagebart und diese feine Goldrandbrille, die das Herz der unerfahrenen Schwester zum Beben brachte. Und doch ahnte sie auch schon bald: Sie war für ihn nur ein Nichts.

Meine Güte, Leute, das ist schon eine ganz schöne Zumutung. Aber Andreas braucht etwas Aufmunterung, also habe ich ihn nicht niedergemacht. Die Polizei war noch mal bei ihm und wollte eines seiner Küchentücher haben, reine Routine sagten sie. Na denn Prost. Ich mische mich da ja nicht ein.
Was mir heute unterwegs übrigens exotisch vorkam: Zwei alte deutsche Damen, aufgepretzelt mit Gold und Perlen, Rüschen und Handtäschchen (sowas gibts noch!), die sich in der S-Bahn unterhielten. Über Hanni und ihre verkorkste Ehe mit dem Spanier und der Geldknappheit nach der Scheidung.
Heute einige nette Fotos geschossen. In aller Heimlichkeit, klar.

Dem miesen Autofahrer mit der Pfütze habe ich einige richtig böse Gedanken hinterher geschickt. Komisch irgendwie, dass der daraufhin ins Schleudern kam und mitten auf der Karl-Marx-Straße gegen einen Pfosten knallte. Schade aber auch. Als ich dann hinterm Rathaus Neukölln abbiegen musste, habe ich nur noch die Sirenen gehört, und irgendwelche Brüllereien. Fast bis zur Sonnenallee ging das.

Tony 1 (Beginn der unglaublich spannenden und ereignisreichen Neuköllnsaga)

Sonntag, 06. Mai 2007

Tach. Bäumler beim Name, Tony Bäumler. Eigentlich heiße ich ja Antonius, weil meine Eltern damals vor fünfzig Jahren plötzlich so einen katholischen Heiligenrappel bekommen haben und ihr Kind dafür strafen wollten. Na ja, hat sich inzwischen auch wieder gelegt, der Rappel jedenfalls. Die Strafe weniger.
Jedenfalls soll ich hier manchmal schreiben, weil ich so viel in Neukölln und Berlin rumkomme, meint Franziska. Okay, kann ich machen. Außerdem behauptet sie, ich hätte sowas wie das zweite Gesicht und könne in Menschen sehen. Ist zwar Quatsch, klingt aber gut. Richtig ist, dass ich manchmal Dinge merke, die andere nicht zur Kenntnis nehmen. Kann ich aber nichts für.
Was gibts sonst noch zu sagen über mich? Einmal pro Woche spiele ich Schach mit einem alten Bekannten, Andreas heißt der. Der ist vielleicht ne Type! Manchmal schweigen wir uns einfach nur drei Stunden an, auch recht. Manchmal aber erzählt der Sachen, da haut es einen aus den Socken. Gestern zum Beispiel: Ausnahmsweise gönnte er sich auch ein Bierchen bei mir, was ja schon ein Weltwunder an sich ist. Und dann legte er los, mit gelöster Zunge sozusagen. Er habe seine Nachbarin erdrosselt und sowas. Völliger Irrsinn! Und jetzt sei er gespannt, wie die Polizei ermittle und ob er das wiederholen könne. Ja gut, er ist eben ein Spinner, aber harmlos.
Übrigens: Ich fotografiere. Ich will nicht sagen, dass ich Fotograf bin, das klingt schon so hochtrabend. Meinen Alltag verbringe ich einfach damit, durch die Straßen hier zu streifen und Fotos zu machen. Situationen festzuhalten. Ein paar davon kann ich sogar verkaufen, sodass ich mich nicht immer nur von Wasser und Fladenbrot ernähren muss.
Also dann – bis demnächst!

Andreas 40

Samstag, 05. Mai 2007

Tage vergingen. Bei jedem ungewöhnlichen Geräusch spitzte Andreas nervös die Ohren. Tat sich etwas im Treppenhaus? Hatte man sie endlich gefunden? Das ganz große Geschrei musste er dann wohl doch verpasst haben, schade eigentlich. Aber ab und zu musste er auch arbeiten. Jedenfalls war es Dienstag; die Stadt hatte sich wieder abgekühlt und die Leute im Supermarkt sprachen von Regen. Andreas saß an seinem Schreibtisch, als es an der Tür klingelte. Er sprang auf! Wie oft hatte er sich diese Szene ausgemalt. Er ging an die Tür. „Ja, bitte?“ „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Wir sind von der Polizei und hätten da ein paar Fragen!“ Er öffnete zögerlich und blickte fragend, mit schüchterner Unschuldsmiene, zwei uniformierten Polizeibeamten entgegen. Aha, ging es ihm durch den Kopf. Kein Kommissar oder womöglich eine Kommissarin. Wobei er fast gegrinst hätte. Aber er hatte sich gut im Griff. Überhaupt verlief das Gespräch genau so, wie er es sich ausgemalt hatte. Wann er Noemi zuletzt gesehen hatte, wollten die wissen. Ob er etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen hätte. Ob er etwas über ihren Bekanntenkreis wüsste … er spielte seine Rolle als ahnungsloser und bekümmerter Nachbar großartig. Fand er jedenfalls. Als sie gingen, hatte er fast das Gefühl, sie wollten ihn bedauern. Eine Weile noch lauschte er ihren Schritten im Treppenhaus nach. Dann ging er in die Küche. Nahm sich sein Fläschchen aus dem Kühlschrank und setzte sich dann in seinen Lieblingssessel am Fenster. Nach einem tiefen Zug aus der Flasche (!) blickte er aus dem Fenster und wusste: Dies war der Beginn eines neuen Lebens. Er lächelte.

ENDE

Andreas 39

Samstag, 05. Mai 2007

Am nächsten Tag – wieder einmal stand der samstägliche Einkauf an – ging Andreas sehr langsam durchs Treppenhaus. Gut, dass niemand ihn dabei beobachtete, denn man hätte sich wohl gewundert. Kurz blieb er vor ihrer Wohnungstür stehen und lauschte. Stille. Totenstille. Niemand ahnt, dass da eine Leiche auf dem Küchenboden liegt, dachte er zufrieden. Mit Augen, die immerzu an die Decke starrten.
Dann verließ er das Haus. Heute nicht vergessen: Brot. Kartoffeln. Und vielleicht doch mal wieder ein Fläschchen Radler; war gar nicht so übel neulich.