Archiv für die Kategorie 'Fortsetzungsroman'

Andreas 38

Freitag, 04. Mai 2007

Manchmal sind es nur wenige Augenblicke, die alles verändern können. (Und manches hält sich hartnäckig über Jahre, ohne dass sich einer dafür interessiert).
Nina drehte sich um und sah ihn. Sah ihm in die Augen und wollte ihm in diesem Moment alles erklären; dass es ihr leid tue mit dem Schwert. Dass sie nicht mehr als Kommissarin arbeiten wolle … er machte noch einen Schritt auf sie zu. Wollte er sie in den Arm nehmen? Sie würde es wohl nie erfahren, denn dann ging alles zu schnell. Stimmen aus dem Gebüsch ertönten. „Halt, Polizei! Bleiben Sie stehen!“ Was er natürlich nicht tat. Sie stürzten sich von allen Seiten auf die beiden. Sie sankt verwirrt auf den Boden. Er sprang auf, über das Brückengeländer, seine Schuhe hinterließen hässliche Spuren im makellosen Sand; Schüsse ertönten. Und dann waren es nicht nur Spuren, sondern auch eine wachsende Blutlache, die den japanischen Garten veränderten. Schade irgendwie, war ein Gedanke, der ihr kurz durch den Kopf spukte. Kollegen führten sie weg. Alles wurde abgeriegelt. So endete eine nie dagewesene Reihe von Morden in der Hauptstadt. Über die Motive des Täters zirkulierten noch lange Zeit die wildesten Gerüchte.
Nina ging ein Jahr nach ihrer Psychotherapie nach Japan; sie soll dort in ein Zen-Kloster eingetreten sein.

Andreas schüttelte versonnen den Kopf, während er sich die rothaarige Kommissarin auf Strohmatten bei der Meditation vorstellte. Was etwas schwierig war. Aber es war Zeit gewesen, mit dem verrückten Samurai Schluss zu machen! Ein wenig Schadenfreude empfand er durchaus dabei, auch wenn er nun nichts mehr zu schreiben hätte. Oder wie wäre der absolut fantastische Arztroman? Mit Liebe, Intrigen und schmutzigen Szenen im OP? Da würde er sich aber noch fleißig umhören müssen, was im Krankenhaus alles so abging. Jedenfalls hatte er von seinem Krimi genug. Spannung Null. Erotik minimal. Und 100% Humorlosigkeit. Vielleicht sollte er ja doch bei seinen Grundschülern bleiben.
Und doch war er nicht unzufrieden. Denn über das Morden hatte er einiges gelernt: Der perfekte Mord war nicht sorgfältig geplant, nein. Er war ein Zufallsprodukt des Alltags, ohne Motiv, ohne Spuren. Andreas stand auf. Ging an den Kühlschrank, aber nein, er hatte ja keine Milch mehr, sonst hätte er sich jetzt eine heiße Milch mit Honig gemacht. Eigentlich konnte er mal nachfragen, ob seine reizende Nachbarin nicht ein Tässchen für ihn übrig hatte. Er nahm sich ein Küchenhandtuch mit, das sah auf jeden Fall hausmännlich aus. Und er würde keinen Türgriff berühren müssen. Er klingelte mit dem Zeigefinger im Tuch, als hätte er Routine darin. Sie öffnete schon wenige Sekunden danach; hatte nasse Haare und ein rotes, fröhliches Gesicht. „Ach, du bists!“, meinte sie nicht sonderlich erfreut. „Was gibts?“ „Ähm, Tschuldigung, ich wollte echt nicht stören, aber ich hab keinen Schluck Milch mehr in der Wohnung und wollte fragen, also … “ sie trat einfach beiseite, murmelte ein „Ja, klar“ und ging voran in die Küche. Sollte das denn so einfach sein? Sein Herz schlug immer schneller. Höhepunkt seiner Karriere? „Is nur H-Milch, geht die auch?“, hörte er zwar, aber eine Antwort formulierte er schon nicht mehr. Er nahm das blau-weiß karierte Küchenhandtuch in beide Hände, legte es ihr um den Hals, worauf sie natürlich schnell danach griff. Er aber zog zu, was ihre Aktivitäten von Sekunde zu Sekunde langsamer werden ließen. Erst ruderte sie so verzweifelt mit den Armen, dass sie dabei ein Marmeladenglas vom Kühlschrank fegte. Dann traten ihre Augen hervor und das Röcheln aus ihrem Mund wurde immer leiser. Sie rutschte auf den Küchenboden und auch da ließ er noch nicht los. Bis sie ganz still war und ihre aufgerissenen Augen irgendwie erstaunt zur Deckenlampe emporstarrten. Da zog er ihr das Tuch weg. Warf noch einen zögernden Blick auf die Milch. Und verließ ihre Wohnung, ohne etwas berührt zu haben.
Oben schloss er leise seine Tür und musste sich erst einmal zitternd dagegen lehnen. Er hatte es getan! Dann kam ein leises, irres Kichern über ihn. Überhaupt, Milch konnte er auch noch bei Pänny kaufen, die hatten bis zehn abends geöffnet!
Er warf das Handtuch in den Mülleimer.

Andreas 37

Donnerstag, 03. Mai 2007

Natürlich hatte er sich erkältet, wie fast alle. Und natürlich saß Andreas an diesem Abend an seinem Küchentisch, verdrießlich mit einer Tasse Husten- und Bronchialtee vor sich. Wie sah das denn aus? Kein Mensch hatte je etwas von einem stark erkälteten Täter gehört! Und doch wollte er zur Tat schreiten, oh ja, ganz bestimmt. Dumm nur, dass er sich so jämmerlich fühlte; zu schlapp sogar, seine Nachbarin auch nur kurz zu besuchen und um irgendwelche Vitamine anzuschnorren, geschweige denn mehr zu unternehmen. Obwohl die Plänkelei neulich im Park durchaus ermutigend gewesen war. In seinen Augen zumindest. Dass sie sich nicht im mindesten für ihn interessierte, darüber machte er sich keine Gedanken. Und was war inzwischen mit Nina los?

Sie hörte leise Schritte auf dem Kies. Und nicht nur das – auch im Gebüsch war Flüstern zu hören, ein Knacken, Gesprächsfetzen sogar. Was war da los? Ihre ganze meditative Ruhe war mit einem Schlag dahin. Wurde sie womöglich überwacht? Die japanische Gartenanlage hatte sich plötzlich in eine Falle für sie verwandelt. Nein, nicht für sie: es galt ja ihm. Sollte sie ihn warnen?
Die Schritte näherten sich ihr. Sicher, ohne Zögern trat er schließlich hinter sie. Nina wusste, dass sich jetzt zeigen würde, ob er sie bestrafen oder befreien würde, und ihr wurde kalt. Sie drehte sich um.

Halsschmerzen, Kopfschmerzen, ja sogar Zahnschmerzen und Husten … die ganze Palette! Und seine gesamte Klasse hatte ihm am Morgen entgegengehustet, na toll. Wahrscheinlich waren vier freie Tage und eine Kurzreise in den Westen einfach nicht das Richtige: Durcharbeiten, weitermachen fast bis zum Umfallen, da wurde er nie krank! Außerdem hatte ihm die Reise keinen Spaß gemacht: Lästige Kinder im Zug, die sein Murren einfach ignorierten und butterbeschmierte Bretzeln auf seinen Unterlagen verteilten. Plauderfreudige Mütter, die sich über ihn lustig zu machen schienen. Und eine Eiseskälte aus der Klimaanlage, die seinem schnupfengemarterten Körper den Rest gegeben hatte! Am Reiseziel dann ein „Seniorenheim“ mit sanft säuselnden Pflegerinnen und einer verwirrten Mutter, was er liebend gerne mit einer Klassenfahrt nach Hoierswerda eingetauscht hätte – sogar mit Marvin und Omar. Was an sich die Hölle war.
An diesem kühlen Maiabend ging er schon um neun zu Bett. Sein Werk musste warten … zuvor Kamillendämpfe inhalieren und Japanöl um die Nase. Im Bad glotzten ihm rote, tränendende Augen aus einem entstellten Gesicht entgegen. War er das?

Andreas 36

Freitag, 27. April 2007

Andreas nippte etwas zögerlich an seinem Wein – das Zeug wollte ihm einfach nicht schmecken. Aber es ging ihm ja auch um das richtige Feeling, darum nahm er sich zusammen. Und gerade, als er lässig seinen Kopf nach hinten warf und noch einen sauren Schluck nehmen wollte – da fiel sein Blick auf sie. Nina, nein, Noemi, seine Nachbarin! Sie musste gerade eine Joggingrunde hinter sich haben, denn sie sah unglaublich verschwitzt aus (kein Wunder bei den Temperaturen, die redeten schon wieder von Wärmerekord); außerdem trug sie eine graue Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt, was sie aber nicht minder anziehend machte. Zumindest für einen ausgehungerten, verkrampften Grundschullehrer Anfang Vierzig.
Sie sah ihn. Und oh Wunder, sie lächelte ja schon wieder! Andreas‘ Herz schlug schneller, als er kurz seine Hand hob, ein kleiner nachbarlicher Gruß nur. Vielleicht war es ja seine Schüchternheit, vielleicht aber auch ihr unglaublicher Durst? Jedenfalls setzte sie sich zu ihm an den Tisch, ganz locker. Und mit einem Mal war das Zentrum der Welt dieses Café im Körnerpark, ein kleiner runder Tisch, Blick auf eine hohe Mauer, die den Park abgrenzte. Nichts schien sonst noch zu existieren.

Nina kannte an diesem heißen Tag nur ein Ziel: Jenen Park, in dem sie ihn das erste Mal geahnt hatte. Japanischer Garten, kleiner Schrein, Sandlandschaft. Schnell war sie verschwitzt, denn es herrschten 28 Grad in Berlin, und das Kleid klebte ihr am Leib. Was ihre Körperformen nur hervorhob und sich wie hundert Hände anfühlte. Hände, die sie fest im Griff hatten. Auch andere schienen davon etwas zu ahnen, denn so manche Blicker folgten ihr. Noch immer schwankte sie zwischen Angst und Hoffnung.

Worüber spreche ich nur mit ihr? Was denken junge Frauen um die dreißig eigentlich?, dachte Andreas panisch, während er sein Glas hin- und herdrehte und bedauerte, keinen Löffel zu haben wie beim Kaffee. „Na, auch ein kleines Päuschen zwischendurch?“, fragte sie munter und irritierte ihn dadurch noch mehr. „Öh, ja.“, war seine geistreiche Antwort. „Brauchte mal frische Luft.“ „Ja, die Luft ist heute unglaublich, was? Und der Flieder da drüben, der betäubt einen richtig!“, lachte sie, während sie ihren Orangensaft entgegennahm. Wie machte die das nur, so entspannt zu sein? Er konnte es nicht begreifen.

Gleichzeitig mit der jungen Kommissarin ging auch ein anderer durch die Stadt, und auch ihm folgte so mancher Blick. Denn er war völlig schwarz gekleidet, nach Art der Schertkämpfer des einstigen Japans, und seine Augen trafen seine Mitmenschen so kalt, dass es den fror, der getroffen wurde. Er ging aufrecht und ohne Eile. Und doch so zielstrebig, dass keiner es gewagt hätte, ihn aufzuhalten.

„Und, was machst du ’n so?“, fragte Noemi ziemlich desinteressiert und sah kurz zu ihm rüber. Dieser kurze, lieblose Blick war es vielleicht, der einen Entschluss in Andreas reifen ließ. Er würde es tun!

Andreas 35

Donnerstag, 26. April 2007

Andreas musste endlich eine Entscheidung treffen. Was würde aus dem mordenden Möchtegern-Samurai werden? Und noch ein anderes Problem quälte ihn schon seit Tagen. Denn den wichtigsten Aspekt überhaupt für einen brauchbaren Krimi – den hatte er ziemlich übel vernachlässigt. Spannung! Niemand will sich durch endlose Seiten ohne Gemetzel und wildes Bettgetümmel kämpfen.
Um einen klaren Kopf zu bekommen, beschloss er, einen (seltenen) Spaziergang durch ein Neukölln zu machen, das der Frühling fest in seinem Griff hatte. Selbst hier, im Mief der Großstadt, blühten die Linden und zwitscherten die Amseln, als würden sie dafür bezahlt. Er überquerte die S-Bahn-Brücke und betrachtete eine Weile die müllübersäten Schienen. Eine der nächsten Straßen erinnerte ihn plötzlich daran, dass ein Mordopfer dort gewohnt hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Überall lauerte das Verbrechen, nicht nur in seiner Fantasie. Das passte ihm nicht; konnte nicht alles unter seiner Kontrolle bleiben? Weiter, an den Spielplätzen vorbei. Türkische Jungs tobten sich am Ball aus und riefen sich derbe Sprüche zu. Bedrohlich knallte der Ball ans Metallgitter, sodass er zusammenzuckte. Körnerpark. Er durchstreifte ihn und entdeckte sogar eine kleine Ausstellung von Kunst, Masken, Dingen, die Neuköllner Kinder in einem afrikanischen Projekt hier gebastelt hatten. Erstaunlich. Für eine Weile ließ er sich von seinen trüben Gedanken ablenken, doch schon einige Straßen weiter wurde ihm klar, dass die Leiche des jungen Mädchens neulich genau dort gefunden worden war, wo er jetzt ging. Verbrannt, in einem Koffer. Er verlor die Lust und kehrte um. Kinder auf dem Spielplatz dort lachten und wippten auf einem schwarzen Wippband. Sie wissen nichts, dachte er finster.

Er beendete seine Meditation. Legte gelassen sein Kurzschwert beiseite und erhob sich. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Noch mussten einige Vorkehrungen getroffen werden, und schmerzlich würde es für ihn werden, das war ihm klar. Doch es gab keine andere Möglichkeit.

Als Andreas wieder durch den Körnerpark ging, beschloss er, sich ein Glas Rotwein zu genehmigen. Er wollte einmal so richtig über die Stränge schlagen! Wenn ihn seine Mutter jetzt so sehen könnte … dachte er, während er sich den kleinen Park mit seinen Wasserspielchen ansah.

Nina war längst unruhig geworden. Sie ging in ihrer Wohnung auf und ab und mit jedem Schritt verwandelte sich ihre Unruhe mehr in Angst. Was hatte er vor? Mit sich, mit ihr, mit der Welt? Würde das Morden ewig so weitergehen? Vielleicht hatte sie ja etwas in ihm verändert. Sie warf noch einmal einen Blick auf das Bett und zog dann ein Kleid an, das in die Welt schrie: Es ist Frühling, Leute, freut euch! Das leuchtende Grün brachten ihre roten Haare noch mehr zum Leuchten. Damit wollte sie alle bösen Geister vertreiben; böse Mörder vielleicht auch.
Unterdessen verließ er seine Wohnung.

Andreas 34

Dienstag, 24. April 2007

Er legte das weiße Tuch vor sich auf den Tatamiboden. Saß vor seinem Wandbild, die drei Blumen davor symbolsierten heute: Trauer, Abschied und Hohngelächter. Denn so würde er ihnen entkommen! Nachdem er das Kurzschwert sanft vor sich auf den Boden gelegt hatte, schloss er die Augen und ging in sich. Der Weg des Seppuku war nicht leicht: Das Messer öffnete den Körper von unten nach oben. Ziel war es dabei, möglichst lange durchzuhalten, und der wahre Held schaffte es am Ende sogar noch, die eigenen Gedärme hervorzuholen … Natürlich ohne einen Laut des Schmerzes.

So richtig zufrieden war Andreas allerdings nicht mit seiner Exkursion in die Welt des Harakiri. Was sollte denn jetzt der Quatsch? War es nicht schön gewesen, mit Nina im Bett? Andreas wurde das ärgerliche Gefühl nicht los, dass sich sein Mörder und Held seinem Zugriff entzog. Wollte der sich etwa selbstständig machen? Nee, so gings aber nicht. Undankbar.

Noch einmal wollte er sich richtig japanisch fühlen, um dann für immer Abschied zu nehmen von jenen Gedanken: Er würde die Welt nicht ändern oder sogar verbessern, indem er Menschen tötete! Eine letzte Meditation, ein letztes Mal den grünen Tee der Erkenntnis geschäumt, dann würde er zu ihr gehen.

Ach ja? Glauben wir das jetzt, dass ein Massenmörder die 180-Grad-Kehrtwende macht, bloß weil ihm die attraktive Kommissarin eine schöne Nacht bereitet hat? Niemals! Andreas klammerte sich an diese Idee, aber es kam ihm vor wie ein Kampf mit dem Samurai selbst. Wütend verließ er seinen Computer und ging erst einmal in die Küche, um sich ein Brot zu machen. Und seine Tasse Fencheltee.

Andreas 33

Sonntag, 22. April 2007

Als Nina erwachte, wollte sie nicht sofort die Augen öffnen. War sie allein? War er noch da? Vorsichtig tastete sich ihre Hand über das Bett; eine kühle Leere jenseits ihrer Decke verriet ihr, dass er gegangen war.
Es war unglaublich mit ihm gewesen.
Aber was würde nun kommen? Die Gedanken an ihre Kollegen, an die ganze bisherige Untersuchung und all die Peinlichkeiten, die ihr bevorstanden, bereiteten ihr plötzliche Übelkeit. Wenn sie da nur ausbrechen könnte!

Andreas musste leise lachen, als er sich das vorstellte. Ausbrechen? „Kommissarin flieht mit Massenmörder auf die Bahamas!“, na toll. Das ging wirklich nicht. Zunächst einmal machte ihn aber sein eigenes Privatleben nervös. Man hatte ihn aus dem Altersheim seiner Mutter angerufen. Wörter wie „besorgniserregend“ und „Ausfälle“ hatten noch nachgeklungen. Was sollte er denn da tun? Eine Mutter war eine Mutter und sollte sich gefälligst nicht in ein Kind verwandeln. Das machte ihm jedenfalls schlechte Laune. Trotzdem beschloss er, am folgenden Wochenende mal hinzufahren.
Sein großes Werk musste dann eben mal warten. Wie auch Nachbarin Noemi, die am Samstag so ausgesprochen nett gelächelt hatte …
Nina hätte aber doch besser zu ihr gepasst.