Dezembernacht
Montag, 04. Dezember 2006
Ich finde das schön, dass jetzt mal Klartext gesprochen wird: Wer jetzt noch knausert oder typisch deutsche Miesepetrigkeit an den Tag legt, dem gehört die Rote Karte gezeigt! Jawoll! So sagt das ein wichtiger Politiker, und so denken zurzeit viele. Schluss mit traurig! Die Arbeitslosenquote geht runter. Die Mehrwertsteuer geht rauf. Alles saubere Gründe, jetzt loszustürzen und sich in das vorweihnachtliche Shopshopshop einzureihen. Was lese ich da von einer kaufberauschten Mutter? Eine Eisenbahn für ihren Sohn hat sie heute erstanden, für läppische 700 Euro! Na also, geht doch.
Ich finde das schön, wie gesagt. Was interessiert mich schon mein Kontostand vom Januar?
Es gibt Zeiten und Orte, an denen ich lieber nicht mit einer ängstlichen japanischen Reisegruppe losziehen würde. Freitagabend, acht Uhr S-Bahnhof Frankfurter Allee zum Beispiel! Das kann schon richtig furchterregend sein. Vielleicht ist es ja die wilde Mischung: eine Gruppe von riesigen, martialisch aussehenden Soldaten in Wochenendstimmung; Jugendliche in extrem kurzharigem Outfit, laut brüllend, offensichtlich im Gruppenrausch; fünfzehnjährige Mädchen, die sich so schrill herausgeputzt haben, dass ich mich wirklich frage, ob die Eltern das gesehen haben … Dazwischen alkoholumwehte abgestürzte Gestalten, erschöpfte Arbeiter auf dem Heimweg, verdreckt von harter Arbeit. In Neukölln steigen dann noch abenteuerlustige türkische Jugendliche ein, die kurz vorher offensichtlich in Parfüm gebadet haben und jetzt zu allem bereit sind. Was für ein Duftgemisch!
Ich halte mich im Hintergrund und bin froh, endlich in meinen vier Wänden verschwinden zu dürfen. Am nächsten Morgen: Alle sind verschwunden, der Spuk ist vorbei! Eine strahlende Dezembersonne bescheint eine friedliche Stadt. Na so was.
Gestern beim Bäcker: Manchmal mache ich einen kleinen Umweg und gehe genau zu diesem Bäcker; einige der Brote sind richtig gut. Ich kaufe eins davon. Ich bezahle. Und werde sehr nachdenklich. Moment mal, 2,63 € für das Brot? Freundlich frage ich nach, ob sich irgendwas an den Preisen geändert hat – man weiß ja nie, vielleicht ist das nur die ulkige Idee des Tages oder sowas. Ist es nicht. „Ja, am 1. November wurden hier die Preise erhöht.“ Als die Verkäuferin das sagt, senkt sie verlegen den Blick und wird dann ganz geschäftig. So ist das also. Während alle auf die schlimme Steuererhöhung im nächsten Jahr blicken, werden hier schon mal 50 Cent auf ein Brot draufgeknallt. Schubweise schluckt das Volk das eher, oder?
Heute beim Frühstück schneide ich sehr bedächtig die ersten Scheiben vom neuen, wertvollen Brot. Andächtiges Kauen. Vor meinem geistigen Auge Menschen, die sich beim Anblick des Brotpreises abwenden müssen. Ich auch, wenn das so weitergeht. Zu teuer.
Beim türkischen Bäcker gegenüber kostet ein Laib noch 99 Cent. Wie dachte sich das die ahnungslose Marie-Antoinette? Dann sollen sie eben Weißbrot essen!
Die wurde dann aber geköpft.
Heute trete ich aus dem Haus – und atme tief ein. Ah! Zimt! Ein Hauch von Vanille dabei! Wir leben im Schlaraffenland. Schwaden von süßen Wunderdüften überdecken ganze Stadtteile. Tja, es hat eben nicht jeder eine berühmte Keksfabrik in der Nähe.
Manchmal im Sommer, wenn ich dort im Industriegebiet durchradle, ist der Geruch nach Schokolade so stark, dass ich vom Fahrrad absteigen und mir sofort eine Packung Schokokekse kaufen möchte. Heute aber merke ich, dass Weihnachten und Zimt in der Luft liegen. Glücklich benebelt bringe ich meinen Sohn zur Schule. (Von Bitumen oder Hundehaufen keine Spur)
Ob der Senat wohl einen Zuschuss für Geruchsverstärker gibt? Verstehen würde ich es. Kein Mensch kann unter diesen lieblichen Schwaden auf die Barrikaden gehen!
Wenn ich aus dem Haus trete, sollte ich das nicht zügig-schwungvoll machen, sondern mich erst einmal umsehen. Nicht, dass hier finstere Gestalten mit Maschinengewehren lauern würden, nein. Aber einige Fahrradfahrer rasen so schnell über den Bürgersteig, und so dicht an den Haustüren vorbei, dass Vorsicht geboten ist! Beim Weitergehen muss ich dann den Blick senken: Die bekannten Tretminen (Hundehaufen) sind in Neukölln offensichtlich noch großzügiger verteilt als in anderen Gegenden. Vor dem Eingang, oder mitten auf dem Gehweg. Nur Hundehasser beschweren sich natürlich, pfui!
Traumhaft: Wenn jeder Hundehaufen der Stadt auch nur einen Euro einbringen würde, dann wären wir saniert! Kindergärten, ruhende Projekte und Reparaturen könnten endlich in Angriff genommen werden. Wundervoll!
Stattdessen stinkt es mir. Danke.
Darum läuft man auch besser mit gesenktem Blick durch Neukölln. Wenn man ihn dann mal mutig hebt, fällt er in unserer Straße gleich auf die letzten traurigen Deutschlandfahnen, die noch von der WM übrig sind. Etwas staubig, nicht mehr so stolz wie im Sommer. Gleich daneben der erste kleine Weihnachtsmann, der sich an einem Netz ein Haus hochhangelt.
Soll ich da wirklich erhobenen Blickes weitergehen?