Mal ein Kompliment

Samstag, 21. Juni 2008 09:41

Es ist ja immer leichter zu meckern, und genug Material dazu findet man hier auch. In den letzten Wochen zum Beispiel unter der S-Bahn-Brücke Neukölln: Baustelle mit riesigem Bauzaun, sodass man kaum noch durchkam, Gestank, Kabel, Bauschmutz, Enge, muffige ausweichende Leute … aber davon rede ich ja nicht. Der Zaun ist weg, das Geheimnis ist gelüftet: Richtig schöne, von hinten beleuchtete Baumrindenbilder, strahlend grün, zieren jetzt beide Straßenränder und machen die eilige Betrachterin jedes Mal ein bisschen froher. Danke!

blind

Donnerstag, 19. Juni 2008 22:25

Ich sitze in der U9 und betrachte geistesabwesend die einsteigenden Fahrgäste, als mir einer auffällt, der gar nicht zur Tür geht, sondern einfach auf die U-Bahn zu. Mit seinem Stock tastet er sich dann sofort die Fenster entlang, bis er zur Tür kommt und einsteigen kann. Ein schlanker, ernster Mann, ganz offensichtlich völlig blind. Er sucht sich einen Sitzplatz, indem er mit seinem Blindenstock blitzschnell die Plätze erfasst und sich dann mitten in die Reihe auf einen freien Platz setzt. Den (wie immer besetzten) ersten Platz, der für besondere Fälle reserviert ist, den beachtet er gar nicht. Das ist er wohl gewohnt.
Ich bin beeindruckt. Wie ist das, wenn man U-Bahn fährt und überhaupt nichts sieht? Ich habe nicht den Eindruck, als wären die ganzen Bahnsteige und Wege besonders behindertengerecht. Im Gegenteil, überall lauern Fallen! Was ich aber am schwierigsten finde: Sich ständig beobachtet fühlen zu müssen, ohne sich dagegen wehren zu können. Er kann nicht zurückstarren, er kann sich nicht orientieren, er ahnt nicht, ob vielleicht ein ekliger Irrer neben ihm sitzt, neben den sich sonst niemand gesetzt hätte! Na gut, die Nase funktioniert ja bestimmt. Trotzdem. Blindsein muss auch ein Gefühl der Ausgeliefertheit hervorrufen, mit dem man erstmal klarkommen muss! Ich stelle mir vor, wie ich mich, plötzlich erblindet, völlig zu Hause verkriechen würde. Und ich stelle mir auch vor, wie ich, mit verbundenen Augen, diese Fahrt machen würde und dann schließlich schreiend die Binde von den Augen reißen würde.
Die Fahrt geht weiter, und schließlich steigen wir aus. Der Blinde auch am Zoo, und ich kann sehen, wie er sich sicher durch die unsichtbare Welt bewegt. Ich bewundere ihn!
Ach ja, ist „blind“ überhaupt politisch korrekt?, geht es mir durch den Kopf. Taub darf man ja auch nicht mehr sagen, das ist jetzt gehörlos. Also vielleicht „sichtlos“? Nee, klingt nicht gut. Und bei diesen ganzen Überlegungen merke ich, wie unsicher ich mit diesem Thema umgehe, während er, der Blinde, zielsicher durch Berlin fährt.

Wenige Tage später. Diesmal will ich mit meiner Ringbahn fahren, steige ein, setze mich und wundere mich über eine Frau, die völlig ziellos über den Bahnsteig stolpert, bis ein Junge (danke!) sie in die S-Bahn führt, die schon wieder losfahren will. Verwirrt klammert sie sich an eine Stange und ich helfe ihr dann schließlich zu einem Platz, weil sonst niemand Lust dazu hat. Wir sind schließlich in Berlin.
Auch beim Aussteigen ist sie völlig hilflos, die Umstehenden sind ebenfalls verunsichert, sie piekt mehrere mit ihrem Stock und scheint völlig überfordert. Wie kann das sein? Warum ist sie dann ganz allein unterwegs, blind, hilflos? Ich verstehe das alles nicht. Aber eins habe ich gelernt: Blind ist nicht gleich blind. Diese Frau jedenfalls weiß, dass sie sich auf ihre Art fallenlassen kann; irgendwie kommt sie schon ans Ziel.

Ja wo sind sie denn alle?

Montag, 16. Juni 2008 22:26

Es ist so still auf Deutschlands Straßen. Ich schleiche unter der S-Bahnbrücke Neukölln durch und bin froh über die paar Gestalten, die eilig vorbeihuschen. So ganz leer will ich die Straße schließlich nicht. Bei Penny (um Viertel vor zehn abends) standen sich gerade grimmige Jugendliche gegenüber, teils türkisch, teils deutsch, voller Lust auf eine Schlägerei. Vor dem Laden meines Lieblingstürken hängt eine riesige deutsche Fahne. Beim Chinaladen gegenüber auch. Wie jetzt, haben die denn Angst, sonst eins auf die Mütze zu kriegen? Gestern hing da noch die türkische Fahne. Hm.
Böller zerreißen die Stille! Jetzt kriege ich auch Angst – nicht, dass mich so ein Ding erwischt! Schnell heim in die fußballfreie Zone.

Fähnchen schwenken

Freitag, 13. Juni 2008 20:38

Tja da müssen wir sie wohl aus dem Fenster hängen und Farbe bekennen! Nicht dass irgendwelche Nachbarn uns für Nestbeschmutzer halten. Jawoll, wir gehören dazu, wir sind wieder wer, aber sowas von!
Wo nochmal liegt Kroatien? Und warum gibt es hier so viele rote Fähnchen mit einem Halbmond?
Eigentlich auch nicht übel. Heute morgen erst als Kopftuch und T-Shirt gesehen.

Das Böse. Es lauert auch vor deiner Tür!

Freitag, 30. Mai 2008 08:54

Nehmen wir zum Beispiel Herrn M.. Im Alltag ist er ein recht vernünftiger Mensch, hält auch mal einer alten Dame die Kaufhaustür auf und greift manchmal zur Biomilch. Steigt er aber in sein Gefährt, so mutiert er augenblicklich. Der Anblick einer Fußgängerin mit Kind am Straßenrand veranlasst ihn an regnerischen Tagen, mal so richtig mit Schmackes durch die Pfütze zu fahren und denen zu zeigen, was ein Auto so alles kann! Während Mutter und Kind den Rest des Weges damit beschäftigt sind, sich fluchend den Dreck aus Augen, Mund und Ohren zu wischen und sich zu Hause erst einmal komplett duschen und umziehen müssen, geht er wohlig seinen Gedanken über Macht und Ohnmacht im deutschen Straßenalltag nach.
Auch die Tempo-30-Zone liefert ihm immer wieder Glücksgefühle: Gerade bei Pflasterstein kann man so richtig donnernd durch die Wohngegend brettern, man ist ja kein Weichei. Und den Fußgänger da vorne könnte er unter Umständen auch noch erwischen!
Das Abbiegen ist grundsätzlich dazu da, den Fußgängern zu zeigen, dass sie nur Menschen zweiter Klasse sind. Auch wenn sie gerade grünes Licht haben – gilt nicht überall das Recht des Stärkeren, und hat das Auto nicht auch Grün? Also Platz da!

Neulich hätte Herr M. fast den Muttertag vergessen. Er beschloss dann spontan und in einem Akt der Mutterliebe, die alte Dame mit an Bord zu nehmen und gemeinsam mit ihr ins Grüne zu fahren, Wald und frische Luft würden sie das Pflegeheim für einige Stunden vergessen lassen. Und was gibt es Schöneres, als der Landluft noch eine kräftige Abgasnote zu verleihen? Leider musste sich seine Mutter mehrmals während der Fahrt übergeben. Herr M. steigt nun nicht mehr ganz so frohen Mutes in seinen vierrädrigen Egoverstärker.

Behinderung

Dienstag, 13. Mai 2008 18:01

Es gibt Menschen, die behindern sich selbst. Oder sie werden behindert, im Namen der „Schönheit“ etwa. Das fängt schon ganz klein an! Da gehe ich zum Beispiel an einem Kinderspielplatz Nähe Karl-Marx-Straße vorbei, alle Geräte fest in türkisch-arabischer Hand, muntere Maistimmung, Omma und Mamma hängen an der Wasserpfeife und alle Jungs zwischen drei und dreißig kicken irgendwelche Bälle in alle Richtungen, da stolpern mir zwei Gören entgegen: Leider können sie nur stolpern, obwohl sie so eine Art Fangspiel spielen, aber ihre Füße stecken in herzallerliebsten goldenen Treterchen, unpraktisch, sicher unbequem, aber vom Aussehen durchaus geeignet für den nächsten Opernball. Die Armen! Da fragt sich die staunende Landpomeranze doch, ob diese kleinen Mädchen ihre Mütter (oder Väter?) beim Einkauf dermaßen bekniet haben, bis sie die Glitzerdinger bekamen, oder ob die Mütter (ähm – Väter?) es wunderhübsch finden, wenn ihre ansonsten keineswegs zierlichen Töchter ihre zarten Füßchen auf diese Weise schmücken. Ich finde es jedenfalls beunruhigend. Denn wirklich laufen können sie nicht damit! Gequälte Frauenfüße im alten China fallen mir ein.
Beim Weitergehen fällt mein Blick auf eine Frau, die mit ihren bängstigend hohen Stöckelschuhen kaum den Weg über die Neuköllner Pflastersteine überlebt. Wahnsinn. Ich halte etwas Abstand, damit ich sie nicht auffangen muss, wenn sie umkippt, das wäre mir doch etwas unangenehm. Warum tut die sich sowas an? Ihre Haare sind ebenfalls hoch, aufgetürmt und blondiert. Na ja, wir sind eben in Neukölln. Ihr Gang jedenfalls scheint zwei Dinge zu signalisieren: Fortpflanzungsdrang und Anlehnungsbedürfnis. Anlehnung schon aus rein praktischen Gründen.
Dumm nur, dass sie so um die sechzig ist und das mit der Fortpflanzung wohl nicht mehr so hinhauen wird …