Andreas 27
Als Andreas an diesem letzten Feriensamstag vom Einkaufen heimkehrte, fand er zu seiner Überraschung eine Postkarte im Briefkasten. Wer sollte ihm schreiben? Eine fremde Briefmarke – aus Albanien! Das Bild auf der Karte: eine romantische Berglandschaft, Hügel bis an den Horizont und im Vordergrund eine lächelnde junge Frau in offensichtlich traditioneller Kleidung, mit einem gut gefüllten Obstkorb im Arm. Wer zum Henker schickte ihm diese Karte? Diszipliniert wie er war, wartete er, bis er in seiner Wohnung war, und las dann:
„Hey Alter! Na rate doch mal, von wem diese Karte ist! Hängst du immer noch im versifften Berlin rum? Ich habe den Absprung geschafft und arbeite jetzt an der Uni in Tirana. Voll gut! Weißt du noch, wie wir als Kinder gewettet haben, wer es weiter bringt, du oder ich? Tja, war wohl nix, Andilein!“
Verwirrt starrte Andreas auf die Zeilen. Das konnte nur eine geschrieben haben: Seine dreiste Cousine Lara. Du lieber Himmel! Sie hatte ihn schon immer aufgezogen, weil er wohl erzogen am Tisch sitzen blieb, während sie nach dem Essen aufsprang und in den Garten rannte. „Göre!“, hatte seine Mutter dann immer gezischelt. Er aber war ihr später nach draußen gefolgt und hatte sich willig und fasziniert all ihren verrückten Wünschen gebeugt. Als sie dreizehn waren, musste er ihr Informationen über die Beschaffenheit des männlichen Körpers beschaffen. Noch jetzt wurde er schamesrot, wenn er an diese Begebenheit im Gebüsch zurückdachte! Obwohl es eigentlich nicht wirklich schrecklich gewesen war … Lara hatte ihm damals Dinge über Mädchen verraten, die ihn tief beeindruckt hatten. Und jetzt war sie in Albanien? Wow. Er schloss die Augen und stellte sich dieses fremde Land vor. Sicher, Armut und Schmutz gab es. Aber auch schöne Landschaften und Einsamkeit und das Meer. Ob er sie einmal besuchen sollte?
Er erinnerte sich nicht mehr genau an den Zeitpunkt, zu dem ihm seine japanischen Mitschüler richtig verhasst wurden. Warum mussten sie ihn auch quälen, ihn aufziehen wegen seiner Andersartigkeit? An der Sprache lag es nicht, denn Japanisch beherrschte er fließend. Aber er dachte anders als sie: viel japanischer und traditioneller als irgendeiner unter ihnen. Während sie mit den Mädchen rummachten und in Discos rannten, verbrachte er die Zeit im Tempel bei seinem Meister. Er half ihm die Bäume zu stutzen und die Stufen zum heiligen Raum zu kehren. Doch eines Tages musste er dieses Land verlassen, und einen Teil davon nahm er mit sich: Wenn er die Augen schloss, konnte er den abendlichen Singsang des Süßkartoffelverkäufers mit seiner Karre wieder aufleben lassen. Und er sah sich als kleinen Jungen hinter dem alten Mann herlaufen und eine große, heiße, rote Kartoffel erstehen, in Zeitungspapier eingewickelt, die er dann stolz seiner Mutter heimbrachte.
Vorbei, für immer. Und doch würde er durch seine Taten zumindest etwas vom Guten nach Deutschland bringen. Sein Schwert musste eben sprechen, wenn sonst nichts nutzte!
Andreas war bis zum Abend guter Laune. Eine Karte aus der Ferne! Und die Sonne schien so unglaublich, dass Berlin vielleicht sogar mit Albanien mithalten konnte. Und irgendwo in den USA hatte es am Vortag Schneestürme gegeben! In seinem Überschwang überlegte er sogar für eine Sekunde, ob er Eisbärbaby Knut im Zoo besuchen sollte – doch nein, den Massenandrang würde er sich nicht antun. Stattdessen beschloss er, noch einen besinnlichen Abendspaziergang über den Friedhof zu machen. Nirgends gibt es so viel Grün an der Hermannstraße wie dort. Dumm nur, dass er schon nach wenigen Metern in diesem Grün angebrüllt wurde: „He Sie, wir schließen aber gleich!“. „Ich weiß, in zwanzig Minuten!“, versuchte er zurückzubrüllen, aber sie schien versessen darauf zu sein, ihn aufzuhalten. Da gab er betrübt seinen Plan auf und kehrte um. Die Frau mit ihren zwei Hunden (Auf dem Friedhof!) starrte ihn gimmig an und er zog wie so oft den Kopf ein. Nur keinen Ärger.
Das Schwert sauste surrend durch die Luft und trennte den Kopf so schnell von seinem Körper, dass noch ein überraschtes Lächeln auf dem Gesicht zu liegen schien, als er schließlich zwischen den Gräbern landete. Wieder war der Gerechtigkeit Genüge getan.
April 15th, 2007 20:00
Der Link zu Albanien/Kosovo hat mich sehr beeindruckt. Anfangs kam er mir zwar ein wenig ‚kolonial wohlwollend‘ vor, und so ganz hat sich dieser Geschmack nicht verflüchtigt. Er wurde dann aber durch die vielen Informationen und die angenehm sachliche Sprechweise der Autorin nebensächlich.
So, und nun zurück zu den wichtigen Dingen: wo warst du? Ah ja, Kopf ab. Gut so.
April 15th, 2007 23:26
Klar doch, immer mal wieder nen Kopf ab, bevor Langeweile aufkommt …
April 15th, 2007 23:26
Oder besser gesagt: Bevor die Langeweile gar zu groß wird!
;-)
April 16th, 2007 21:20
Genau, ohne Kopf ist auch die längste Langeweile schließlich doch einen Kopf kürzer :-)
April 19th, 2007 21:13
Ist ja irre, die Postkarte aus Albanien! Als wärst du selbst da gewesen! Tatsächlich soll es dort sehr viele Berge geben, und Obst sowieso, ist ja ein Südland. Und, wie Frau Thiel ganz richtig schreibt, dort gibt es noch freilaufende, freilebende Hunde… aber ganz harmlos!
April 19th, 2007 21:59
Ah, danke! Ich habe einfach mal die Augen zugemacht und versucht mir vorzustellen, wie es in Albanien aussieht. Scheint ja wirklich eine Reise wert zu sein!