Zwergenaufstand
Zunächst ist alles normal an jenem Morgen. Die Ringbahn S41 Richtung Westkreuz sammelt 7.51 Uhr in Neukölln all die ein, die kurz zuvor noch die Bahn Richtung Hermannstraße haben sausen lassen. Man will ja schließlich nicht umsteigen. Ruhige Stimmung. Ein paar Büroangestellte unterhalten sich über einen Kollegen. Eine Frau Mitte dreißig gibt hektisch etwas in ihr Handy ein. Die meisten starren aus dem Fenster oder auf ihre Lektüre. Hermannstraße. Die Türen öffnen sich. Neue Passagiere steigen zu. Und Zwerge. Nein, keine kleinwüchsigen Menschen, die man so auch nicht nennen darf. Eher Wesen von menschlichen Proportionen, die aber kaum über dreißig Zentimeter groß sind. Sie drängen durch verschiedene Türen ins Abteil, verteilen sich überall. Nehmen auf den wenigen übrigen Sitzplätzen Platz, indem sie sich mühsam hochhieven. Sie helfen sich gegenseitig (Räuberleiter), sie hüpfen oder halten sich an etwas fest (Mantel eines Sitzenden beispielsweise). Dann wieder Ruhe, Weiterfahrt Richtung Tempelhof. Eine sehr lange Strecke zwischen zwei Bahnhöfen. Viele Blicke wandern hier automatisch auf das Flughafengelände. Heute aber sind die meisten abgelenkt. Was sind das für kleine Wesen? Sie sitzen, lassen ihre Beine baumeln, ohne kindlich zu wirken, lächeln freundlich, wenn jemand sie anstarrt. Was natürlich kaum passiert, man weiß um diese Uhrzeit, wie man sich zu benehmen hat. Und wie man seine Mitmenschen ignoriert, um ignoriert zu werden. Aber sind das denn Mitmenschen? Sie haben winzige Füße und Hände, aber nicht rundlich-niedlich, sondern einfach kleiner. Auch ihre Kleidung fällt in keiner Weise auf. Und doch kann sich kaum einer auf sein Buch konzentrieren, immer wieder wandern verstohlene Blicke zur Seite. Keiner wagt, die kleinen Fremden anzusprechen, das wäre völlig unberlinerisch. Und auch die Zwerge sind still. Bis einer anfängt, vor sich hin zu summen. Zunächst ganz leise. Ein Zweiter stimmt ein; es ist eine ganz eigenartige Melodie, die die menschlichen Fahrgäste benommen macht. Nach und nach summen alle Zwerge, es ist wie ein elektronisches Signal. Nicht unangenehm, doch verwirrend. Die Leute schließen ihre Augen und lehnen sich zurück. Sie erstarren. Das ganze Bild in der S-Bahn erstarrt, bis auf die freundlichen kleinen Wesen. Halt, ein junger Mann will aufstehen, sein Walkman dröhnt ihm Heavy Metal in die Ohren, er hat überhaupt nichts bemerkt. Aber die Kleinen springen auf, zerren ihn nieder. Das Lächeln ist jetzt verschwunden. Sie nehmen ihm die Beschallung ab und auch er erstarrt. Sie tragen ihn zu sechst auf seinen Sitz zurück. Die nervöse Stimme des Fahrers ist plötzlich zu hören: „Meine Damen und Herren, bitte bewahren Sie Ruhe, es ist alles in Ordnung, wir haben alles unter Kontr…“ Auch er verstummt und der Zug hält mitten auf der Strecke. Die Zwerge können die Türen öffnen und verschwinden.
Was aber passierte später mit den Erstarrten, mit den ganzen Zug? Mit einem Spezialkran wurde er auf ein Nebengleis gestellt. Die Angehörigen verlangten zwar eine ordentliche Überstellung der Betroffenen, doch war es nicht möglich, auch nur einen Körper aus dem S-Bahnwagen zu entfernen. So ließ man alles, wie es war und eröffnete eine Ausstellung „Momentaufnahme in der S-Bahn“. Da den Körpern jede Fleischlichkeit abhanden gekommen war, gab es auch keine hygienischen Bedenken.
Der Eintritt kostet 2 Euro. Berühren der Exponate verboten.