Straßenkind

Immer wenn Ronni in die S-Bahn einstieg, hängte er sich an eine Person, meist eine Frau, neben die er sich dann setzen konnte. Schließlich ist auch Schwarzfahren eine Kunst, die man immer noch ausbauen kann. Und auch ein Achtjähriger kann darin richtig gut sein. Mit unschuldigen Kinderaugen schaute er sich um, ob nicht ein geeignetes Opfer in Sicht war. Denn für ihn gab es immer verschiedene Kathegorien: Träger, Opfer und Fluchthelfer. Davon ahnten die Fahrgäste natürlich nichts. Sie gingen ihren üblichen Beschäftigungen nach: In der Tasche nach einem Taschentuch suchen; Bonbon auspacken; andere beobachten; sich Notizen darüber machen … Ronni hatte mit der Zeit einen Blick dafür entwickelt, wer ihm etwas einbringen konnte. Die alte Dame mit dem Kaugummi und den Fellhandschuhen? Nein, solche keiften immer schnell los: „Was soll denn das, wo sind denn deine Eltern, das geht doch nicht!!“ Der gemütliche Student mit dem Schmöker? Ja! Der wollte erstens schnell weiterlesen, sprich: seine Ruhe. Und zweitens hatte der mehr Verständnis für arme, hungrige Großstadtjungs. Also dann!

An diesem Tag lief alles ein bisschen anders. Vielleicht hätte das Ronni schon früh zu denken geben sollen, aber er war so an Veränderungen gewöhnt, dass es ihm nicht auffiel! Eine Studentin war es, die in ihr Buch vertieft war. „Die Mörder sind überall“ oder so ähnlich hieß es, aber das interessierte Ronni nicht sonderlich. Er stand auf (seine Nachbarin war diesmal eine etwa vierzigjährige Mutter mit einem Mädchen) und lehnte sich zu der Studentin runter. Sie blickte kurz irritert auf und las weiter. Er flüsterte ihr zu: „Bitte, helfen Sie mir.“ Sie hob erneut den Blick. „Hä?“ „Sie sind hinter mir her. Wenn ich nicht alles tue, was die zu mir sagen, bringen sie mich um!“ Die Studentin konnte sich nun nicht länger auf ihr Buch konzentrieren. „Was is los? Spinnst du?“ Diese Art von Reaktion kannte er schon, darauf war er gefasst. „Ich kann nur kurz mit Ihnen sprechen, jetzt sehen sie gerade nicht her. Ich bin in einer Sekte, und die lassen mich nicht ziehen! Schnell, geben Sie mir zehn Euro, dann kann ich mich befreien!“ Er flüsterte, so leise er konnte, doch musste er auch das Dröhnen der Bahn übertönen. Die junge Frau starrte ihn an und schrie plötzlich auf! Das etwa war der Zeitpunkt, da Ronni vermutete, dass sein Plan dieses Mal nicht funktionierte. Also sie schrie jedenfalls mit einer ziemlich hysterischen Stimme auf, packte ihn fest an beiden Armen, starrte ihm in die Augen und sagte kann ganz leise zu ihm: „Ronald. Du bist es! Verdammt, seit zwei Jahren suche ich nach dir! Du kommst jetzt mir und Schluss mit dem Theater!“

Ronni trottete an jenem Tag sehr betrübt hinter seiner großen Schwester her. Sein Leben auf der Straße und mit den anderen Jungs war erst einmal beendet. Schluss mit der Freiheit! Die anderen in der S-Bahn hatten übrigens gar nichts bemerkt.

Die Kommentarfunktion zu diesem Beitrag wurde deaktiviert.