darfmannich
Cornelia ist gut erzogen. Das konnte man gleich merken, als sie vor drei Jahren nach Berlin kam: Da beeindruckte sie die Kinder am Straßenrand, als sie ordentlich bei Rot an der Ampel stehen blieb. Dumm nur, dass der irre Rechtsabbieger sie fast mitgeschleift hätte, als sie sich schließlich bei Grün auf die Fahrbahn wagte. Sein boshaftes Grinsen übersah sie selbstverständlich.
In der U7 auf dem Weg zur Uni wurde sie mehrfach angesprochen. Vielleicht lag das an ihrem ländlich-soliden Mantel, der den jungen Großstadtmännern Eindruck machte? Oder waren es ihre glatten, blonden Haare? Gefallen hat ihr das nicht, aber sie lächelte nur schüchtern und abweisend.
Auch in der S-Bahn hätte sie anfangs vor lauter Höflichkeit fast gefragt, ob der Platz noch frei sei! Wie das in ihrer ländlichen Heimat üblich war. Aber sie konnte sich gerade noch bremsen; besser so.
Anfangs machte ihr die Stadt Angst. Vor allem der nächtliche Heimweg vom Rathaus Neukölln zur Sonnenallee machte ihr zu schaffen. Aber sie gewöhnte sich daran. Auch der Gang durchs nächtliche Treppenhaus rauf zu ihrer Mietwohnung war gewöhnungsbedürftig. Streitigkeiten der Nachbarn waren durch die Wohnungstüren zu hören. Unangenehm, aber Cornelia überhörte sie.
Irgendwann änderte sich das alles. Gute Erziehung schön und gut. Aber als ein Typ ihr an der Karl-Marx-Straße auf den Schuh spuckte, da war es aus. Sie erstarrte. Sah ihn an und brüllte los. Was das solle, so’ne Sauerei, ob er nich besser zielen könne! Das Mann war sprachlos und entschuldigte sich dann bei Cornelia. Das machte sie nachdenklich.
Heute nennt sie sich Nelia, das klingt cooler. Wenn ihr ein Autofahrer den Vortritt nimmt, hat sie einige strafende Handbewegungen parat, die wir hier nicht genauer beschreiben wollen. Danach fühlt sie sich besser. Die Farbe der Ampel kümmert sie nicht mehr sonderlich. Den Mantel hat sie gegen eine Lederjacke getauscht und den Pagenschnitt gegen eine asymmetrische Kurzhaarfrisur. Dunkel gefärbt. Dadurch wird sie jetzt weniger angesprochen, was ihr sehr angenehm ist. Auch der Heimweg ist jetzt sicherer; manchmal wechseln Frauen vor ihr die Straßenseite, weil sie sie für einen Mann halten. Auch egal.
Nelia besucht jetzt einen Sprachkurs an der Volkshochschule: Arabisch für den Kiez. Als gestern ein junger Typ auf sie zuging und sie anquatschte von wegen „schnell mal zu ihm, tolle Nummer“ und so, da fauchte sie ihn auf Arabisch an, was das denn solle und wo seine gute muslimische Erziehung bleibe! Da war der völlig platt und verdrückte sich schnell.
Im Treppenhaus ruft sie nun auch mal ein munteres „Kanns auch ’n bisschen leiser sein?“ in die Runde, was tatsächlich ein Weilchen für Ruhe sorgt.
Und wenn jetzt einer im U-Bahnhof raucht, verzieht sie sich nicht mehr bekümmert ans andere Ende des Bahnsteigs, um keinen Asthmaanfall zu kriegen. Nein, sie geht zu dem Raucher und meint ganz gelassen: „Hey Alter, kannste mal den Stinkestängel ausmachen, det is echt widerlich!“ Dabei sieht sie den Missetäter so finster an, dass die Botschaft gut rüberkommt!
Gut erzogen zu sein ist ja schön und gut. Aber in Neukölln sieht das eben ein bisschen anders aus.