Eigentlich ist das Leben selbst ein Krimi – nur die ordentliche Auflösung ist nicht immer gewährleistet. Heute zum Beispiel bin ich mit der U-Bahn nach Neukölln zurückgefahren; es war gegen halb zehn, die üblichen Pendler saßen also schon brav vor der Glotze. Und die Leute um mich herum ergaben eine so beunruhigende Mischung, dass man die Spannungen fast mit dem Messer hätte schneiden können: Der Typ mit dem wirren Blick und den struppigen Haaren, der sich mit bösartigem Schwung auf seine Bank schmiss und sich dabei auf seinen Fuß setzte, was seine feste Gewohnheit zu sein schien. Die junge Mutter, blass und gereizt, die ihr Kind zu beruhigen versuchte, das nicht nur schrie, sondern so aus Leibeskräften kreischte und sich dabei aufbäumte, dass mir ein Krimi einfiel, bei dem eine Mutter ihr gehörloses Kind umbringt, weil sie dessen Gekreische nicht mehr ertragen kann … Nicht dass mich Mordgedanken plagten, nö, ich versetzte mich nur in die Mutter. Ein anderer Typ zerknitterte lautstark Blechdosen, die er dann in einen Einkaufswagen stopfte; er selbst ganz zerknittert und zerknautscht. Fürchterliche Geräusche machte der.
Was ich sagen will: Wenn man die geballte Spannung hier in Berlin in sich aufnehmen wollte, würde man wohl verrückt werden. Meine Methode, damit klarzukommen: Ich lese. Das heißt, ich entschwinde. Zurzeit ist es einer jener Tibetkrimis, die einem Einblick verschaffen in eine völlig andere Welt. Die einen wütend machen über die chinesische Besatzung, über die Kontrolle, die fiesen und brutalen Methoden der Besatzer. Gleichzeitig bekommt man Respekt vor einer Quelle oder einem Blümchen und freut sich mit einem alten Mönch, der nach Jahrzehnten im Gefangenenlager diese kleinen Dinge genießen kann.
Mein Problem: Ab und zu lässt die Spannung nach und ich lasse mich von meinen Mitfahrern zu sehr ablenken. Minuspunkt.
Ich habe schon erlebt, dass ein Krimi so spannend war, dass ich meine tägliche Aussteigestation verpasst habe! Das ist der Hammer und bekommt zehn Pluspunkte. Was ich liebe: Die richtige Mischung aus Witz (Frechheit), Spannung (Ja, ich will Blut sehen!) und Gefühl. Ein bisschen Lokalkolorit schadet nichts, ob das nun die Straßen von London sind oder die Schwäbische Alb. Außerdem will ich Überraschungen. Ich will sagen können: Mensch, das hätte ich jetzt nicht erwartet! Denn allzu oft ahne ich schon, worauf die Geschichte hinausläuft, und wenn die Helden dann auch noch tun, was ich ihnen eingeflüstert habe, bin ich enttäuscht.
Außerdem will ich einen ordentlichen Schluss. Aufklärung bis ins Detail, meinetwegen mit dem Verweis „Drei Monate später“, so poplig das klingt. Ich hasse es, wenn auf der letzten Seite die Heldin, die glorreich alle wirren Mordmotive und -methoden herausgefunden hat, nun gefesselt auf dem Bett der geisteskranken Mörderin liegt und wahrscheinlich nie gefunden wird, weil alle mausetot sind und nichts mehr sagen können. Blöd, sowas! Ich will Ent-Spannung am Schluss; ich will mich zurücklehnen und dem Autor/der Autorin dankbare Gedanken schicken, dass er/sie mir diese kompletten Erklärungen geliefert hat. So muss das sein.
Und warum lese ich nun Krimis? Weil keine andere Geschichte mich so gut packen und entführen kann. In keinem sogenannten „Fantasy-Abenteuer“ bin ich so weit weg wie in einem guten Krimi, in dem es Angst gibt, Wut, Liebe vielleicht, Probleme, Fragen und Antworten. Gerade die realistische Darstellung der Handlung hat was Mitreißendes, Überzeugendes, mehr als abgehobene Zauberergeschichten mit Drachen und Wichteln. Da soll einfach ein grummeliger Kommissar oder eine schrille Hobbymörderin mit Vaterkomplex sein, und schon bin ich zufrieden.
Und während ich unterwegs in der S-Bahn meinen Krimi lese, verwandelt sich die Welt selbst in einen. Wie oft schon habe ich einem potenziellen Mörder gegenüber gesessen! Warnung an alle Nicht-Krimileser: Ich weiß es nun, nur die Wachsamen haben eine Chance zu überleben. Jawollja!
(Das waren übrigens meine Gedanken zu einem Krimi-Blog-Karussel.)