Spurlos
Sonntag, 05. Juni 2011 15:49
Als Zacharias Wuttke durch den frisch gefallenen Schnee zum Briefkasten stapfte und ihm dabei immer mehr von der kalten Masse in die Stiefel sickerte, konnte er sich beim besten Willen den Sommer nicht vorstellen. Hier standen eigentlich die Pfingstrosen. Weg. Hier der Rasen. Nichts. Nur Kälte. Der Wald rauschte. Und Erna? Auch weg. Und er verstand nichts. Ob das an seinen 83 Lebensjahren lag? Mühsam öffnete er den angerosteten Briefkasten und entnahm ihm stirnrunzelnd einen Brief. Was sollte das sein? Er stapfte zurück und ließ sich im Wohnzimmer erst einmal ächzend auf das Sofa fallen, bevor er sich den Brief näher besah. Kein Absender. Neutrales Papier. Nicht zugeklebt. Nicht einmal eine Briefmarke! Er zog einen Blatt Papier heraus und las: „Lieber Zach, mach dir keine Sorgen, ich brauche nur eine kleine Auszeit, bald bin ich wieder da. Deine Erna.“ Wie, was, Auszeit? Was sollte das sein? Er war fassungslos. Und verwirrt. Er schlurfte zum Fenster und betrachtete seine Spuren im Schnee, die zum Tor führten. Die einzigen Spuren. Er war allein und wusste nicht, was tun.
Das große Haus lag ganz still. Die Dachschindeln ächzten ein bisschen unter dem ungewohnten Schnee, die Kamin beheizte vor allem die große Wohnküche, aber oben, unter dem Dach, da heizte er noch wenig seine Umgebung. Zacharias Wuttke konnte nicht ahnen, dass davon einer profitierte. Einer, der sich gerade in seinen Schlafsack wickelte und auf seine Stunde wartete, während Wuttke den Telefonhörer in die Hand nahm. Die Polizei? Die würden bestimmt lachen, die Beamten dort. „Auszeit? Mit achtzig? Klasse, die Alte hat’s drauf!“ So würden sie ihn auslachen. Er legte den Hörer wieder auf. Dann stutzte er. Etwas war eigenartig gewesen, als er telefonieren wollte. Aber was? Schrecklich. Sein Kopf funktionierte schon eine ganze Weile immer schlechter. Mal war der Schlüssel weg. Mal stand die Haustür sperrangelweit offen, nachdem er vom Einkaufen zurückgekommen war. Und immer war es Erna gewesen, die ihn auf das Problem hinwies und dann den Schaden behob. Wo war sie nun? Wer kümmerte sich jetzt um ihn? Was gab es zum Mittagessen?
Mürrisch ging er in die Küche. Im Kühlschrank musste noch ein Rest von dem Braten von gestern sein, das ginge doch. Zwei Kartoffeln waren wohl auch übrig geblieben … nichts. Leere im Kühlschrank, nur ein lächerliches Marmeladenglas und eine Tube Senf! Was, hatte Erna sich auch noch einen Vorrat mitgenommen? Was war hier los? In Zacharias‘ Kopf wuchs wieder die graue Wolke an, er kannte das schon, dann konnte er gar nicht mehr klar denken. Er setzte sich aufs Sofa und begann zu warten.
Unter dem Dach war es recht kalt, trotz Kaminabwärme. Außerdem war nichts mehr von dem Braten übrig. Und er musste sich dringend erleichtern. Was tun? Die Alte hatte sich ihm gestern entrüstet in den Weg gestellt. Selber schuld. Aber jetzt noch ein Hindernis? Lästig. Der Alte schien nicht ganz klar im Kopf zu sein, das war praktisch. Aber was, wenn er doch störte? Wenn er stutzig wurde? Polizei konnte er jetzt ganz und gar nicht gebrauchen. Die suchten ihn ohnehin überall, tja, der Ausbruch hatte gut geklappt! Nein, er würde sich nie lebenslang in die Psychiatrie stecken lassen. Die waren doch irre!
Zacharias Wuttke war ein wenig eingenickt und wachte plötzlich von einem beängstigenden Geräusch auf. Was knurrte denn da? Es war sein Magen, wie er schnell feststellte. Er erhob sich erneut und öffnete nun den Speiseschrank. Irgendetwas musste es doch zu essen geben! Nudeln. Reis. Dosen mit Erbsen und roten Bohnen. Na also. Er setzte heißes Wasser auf und kam sich mit einem Male ganz tatendurstig vor. Seit Jahren zum ersten Mal wieder kochen! Kochen. Wo war nur Erna, verdammt noch mal? Kochen war ihre Aufgabe!
Die Stufen vom Dachboden ins Obergeschoss knackten ein wenig. Aber der Alte war sicher schwerhörig, also was soll’s, dachte der heimliche Gast. Er schlich sich ins Bad und genoss für eine Weile der Erfindung von Toilette und fließendem Wasser. Wenn er entdeckt wurde? Ach, er hatte doch eh nichts mehr zu verlieren! Aber ein Haus zu gewinnen, falls ihn jemand entdeckte. Er grinste sich im Spiegel an. Es sollte nur niemand mehr wagen, sich ihm in den Weg zu stellen. Die Alte war der Beweis dafür.
Wuttke ahnte nichts von der Gefahr, in der er sich befand. Kurz meinte er, die Toilettenspülung zu hören. Aber was, das Wasser kochte inzwischen laut sprudelnd. Er warf die Nudeln in den Topf. Und als es dann noch lauter zischte und rauschte, wusste er plötzlich, was ihn vorher am Telefon irritiert hatte: Kein Rauschen! Kein Summen! Er ging an den Apparat und nahm noch einmal ab. Tot. Dieses Telefon war nicht zu gebrauchen. Und er war abgeschnitten von der Welt! Das Haus lag einsam genug am Waldrand. Internet? Wollten sie nie haben. Das gute alte Telefon war immer die Rettung und Antwort gewesen. Jetzt vermisste Wuttke einen Computer oder ein Handy. Und er vermisste seine Erna! Nein, die hatte keine „Auszeit“ genommen, das war ausgeschlossen. Er ging zum Fenster. Schnee, wohin er sah. Kein anderes Haus, kein Lebewesen, kein Mensch weit und breit. Kein Mensch? Wuttke wurde nachdenklich. Keine Spur im Schnee, nur seine eigenen, auch schon undeutlicher. Kein Essen im Kühlschrank. Kein Telefon. Das war nicht normal! Jemand musste ins Haus eingedrungen sein! Und der musste schon eine ganze Weile da sein.
Unter dem Dach saß einer und grübelte. Sollte er den Alten leben lassen? Sollte er unauffällig das Haus verlassen? Nicht bei dem Wetter! Und hier suchte ihn niemand. Hier konnte er sich womöglich wochenlang verstecken. Sehr gut.
Zacharias Wuttke versuchte mit aller Kraft, die Wolken in seinem Kopf zu vertreiben und sich zu konzentrieren. Ihm war nun klar: Es ging um sein Leben. Und das von Erna? War sie womöglich schon tot? Wo konnte sich jemand gut verstecken? Und wo war Erna versteckt? Vor seinem geistigen Auge tauchte der Dachboden auf. Vom Kamin mitgeheizt. Dann sah er den Keller vor sich. Dunkel. Kalt. Im Winter ging monatelang niemand dort hinunter. Das war’s.
Unterm Dach drehte sich der heimliche Gast gerade eine Zigarette und kam, als er das Papierchen ableckte, zu dem Schluss, dass er von nun an Alleinbewohner dieses Hauses sein wollte. Er grinste zufrieden und zündete sich die Zigarette an. Gleich würde er nach unten gehen.
Wuttke ging zur Kellertür. Kurz zögerte er, bevor er den Griff hinunterdrückte. Die Stufen waren wie immer steil, und mit jedem Schritt schien die Temperatur um einen Grad zu sinken. Er fing an zu zittern. Ausgeschlossen, dass hier jemand eine Nacht überstand! Er ging weiter, blickte in den Weinkeller, in den Gemüsekeller, zwischen die Konservenregale. Was war das? Ganz hinten, in einer Kiste, war ein Bündel, das er nicht kannte. Er näherte sich voller Angst, zog ein paar Säcke zurück. Und da lag sie. Seine Erna. Geknebelt und mit schreckgeweiteten Augen blickte sie ihn an. Sie lebte! Mit zitternden Händen befreite Zacharias seine Frau und schloss sie dann in seine Arme. Dann versuchte sie ihre ersten Schritte.
Er drückte die Zigarette am Boden aus und erhob sich. Zeit zu handeln! Er ging die Treppe vom Dachboden hinunter, dann ins Erdgeschoss. Was war das? Die Tür zum Keller stand offen! Er stand auf der obersten Stufe und lauschte. Nichts. Doch dann spürte er einen Stoß von hinten und rasend schnell kamen die restlichen Stufen auf ihn zu, als er fiel und fiel und dann auf dem Kellerboden liegen blieb. Oben standen Erna und Zacharias. „Gut, dass wir uns so beeilt haben, was?“, flüsterte er ihr zu. Dann traten sie zurück und verschlossen die Kellertür gut.
Die Polizei staunte nicht schlecht, als sie vom Handy eines geisteskranken Ausbrechers aus angerufen wurden, um diesen (mit einem Armbruch und ein paar Schürfwunden) abzuholen. Das Rentnerehepaar erholte sich schnell von dem Schock. Und Zacharias Wuttke fing dann sogar an, für seine Frau zu kochen. Manchmal.