Archiv für die Kategorie 'Fiktion'

Das Böse. Es lauert auch vor deiner Tür!

Freitag, 30. Mai 2008

Nehmen wir zum Beispiel Herrn M.. Im Alltag ist er ein recht vernünftiger Mensch, hält auch mal einer alten Dame die Kaufhaustür auf und greift manchmal zur Biomilch. Steigt er aber in sein Gefährt, so mutiert er augenblicklich. Der Anblick einer Fußgängerin mit Kind am Straßenrand veranlasst ihn an regnerischen Tagen, mal so richtig mit Schmackes durch die Pfütze zu fahren und denen zu zeigen, was ein Auto so alles kann! Während Mutter und Kind den Rest des Weges damit beschäftigt sind, sich fluchend den Dreck aus Augen, Mund und Ohren zu wischen und sich zu Hause erst einmal komplett duschen und umziehen müssen, geht er wohlig seinen Gedanken über Macht und Ohnmacht im deutschen Straßenalltag nach.
Auch die Tempo-30-Zone liefert ihm immer wieder Glücksgefühle: Gerade bei Pflasterstein kann man so richtig donnernd durch die Wohngegend brettern, man ist ja kein Weichei. Und den Fußgänger da vorne könnte er unter Umständen auch noch erwischen!
Das Abbiegen ist grundsätzlich dazu da, den Fußgängern zu zeigen, dass sie nur Menschen zweiter Klasse sind. Auch wenn sie gerade grünes Licht haben – gilt nicht überall das Recht des Stärkeren, und hat das Auto nicht auch Grün? Also Platz da!

Neulich hätte Herr M. fast den Muttertag vergessen. Er beschloss dann spontan und in einem Akt der Mutterliebe, die alte Dame mit an Bord zu nehmen und gemeinsam mit ihr ins Grüne zu fahren, Wald und frische Luft würden sie das Pflegeheim für einige Stunden vergessen lassen. Und was gibt es Schöneres, als der Landluft noch eine kräftige Abgasnote zu verleihen? Leider musste sich seine Mutter mehrmals während der Fahrt übergeben. Herr M. steigt nun nicht mehr ganz so frohen Mutes in seinen vierrädrigen Egoverstärker.

alt

Dienstag, 15. April 2008

Die Schuldigen wurden gefunden. Die Schuldigen der Rentenmisere, an der allgemeinen Geldknappheit, an den Preiserhöhungen. Und überhaupt die Schuldigen an allem. Ein Politiker hat es ausgesprochen und viele halten sich begeistert daran fest: Wir können nichts dafür, nein, die Alten sind dran schuld! Die wollen Geld und tun nichts dafür!
Hütet euch: Sie sind überall. In der U-Bahn nehmen sie die guten Plätze weg. Sie verstopfen Krankenhäuser und Uniplätze, weil sie sonst nichts zu tun haben. Und das Schlimmste ist: Bald gehört ihr auch dazu!
Na dann: Am besten schon mal vorbereiten. Spanischkurs belegen und Karate dazu, denn morgen gehts um mehr als nur eine Rentenerhöhung. Da gehts ums Überleben – und zwar das eigene. Also: Organisiert euch, wehrt euch – und schimpft nicht mehr auf alles Alte! Denn wer ist denn das? Einer über 35? Oder doch erst über 45? 55? Wehrt euch, damit nicht zum staatlich anerkannten Hobby wird, was heute schon manchem Jungen durch den Kopf geht: Losziehen und Alte abklatschen. Denken’s und rufen: „Alter Penner, der stinkt nach Pisse!“
Kaum, dass sie ihre Windeln abgelegt haben.

Überwachung für jedermann!

Sonntag, 30. März 2008

Endlich können wir Ihnen bieten, wovon Sie schon lange geträumt haben!

Sie möchten wissen, was Ihr Chef am Telefon zu Turteln hat?
Sie wollen sehen, wie lange Ihr Boss die Toilette heimsucht?
Und was er dort macht?

Wir bieten unser buntes Überwachungsprogramm für jedermann
(und natürlich jederfrau)!
Kein heimliches Nasebohren in der Chefetage entgeht Ihnen mehr, ja auch launige Dialoge über liebe Kollegen werden jetzt automatisch aufgezeichnet und Ihnen auf Wunsch zugesandt. Einfach Dauerabonnent werden und nie wieder uninformiert zur Arbeit gehen!
Sie werden sehen, Ihr Vorgesetzter wird es Ihnen danken – spätestens nach einem dezenten Hinweis auf seine Bekanntschaft mit Frau XY …

Gewinnen Sie neue Freunde am Arbeitsplatz und neue Freude dazu – jetzt bestellen, dann erhalten Sie noch gratis den Original-Fingerabdruck Ihres Lieblingspolitikers auf Folie!

Da heißt es heute noch zugreifen!!!

Weichei

Sonntag, 28. Oktober 2007

Als er fünf war, erstarrte er, als ihm die bösen Jungs Schnee in den Kragen stopften. Dann brach er in Tränen aus und lief zur Mutter, die nur lächelnd den Kopf schüttelte. Ihm dann die Jacke auszog und ihn tröstete. Böse, böse Buben, die. Der Vater rümpfte die Nase und brummte „Weichei“.

Mit zehn wusste er genau, was er zum Lehrer sagen musste, damit seine Feinde ihre Strafe bekamen. Sein sanftes Gesicht ließ sämtliche Tanten und Großmütter dahinschmelzen – die bösen Buben aber merkten sich alles.

Zu seinem 15. Geburtstag schenkte ihm Lisa-Mareen ein Buch, das er nicht verstand. Ihre Hand auf der seinen verstand er auch nicht und ihre sehnsüchtigen Blicke; in jener Zeit verbrachte er wieder mehr Zeit in Mutterns Küche.

Das Treiben an der Uni fand er abstoßend. Nur gut, dass seine Jura-Kommilitonen nicht alle so schlimm drauf waren wie der Rest der Studenten. Die bösen Jungs hockten in anderen Fächern und diskutierten über die Entmachtung des Systems. Mit 26 hatte er sein Diplom mit Auszeichnung in der Tasche und dazu den Stolz des Vaters. Da lächelte er.

Mit dreißig dachte er ernsthaft über eine Ehe mit Sabine nach, aber dann wurde nichts draus. Auch seiner Mutter war sie verdächtig vorgekommen. Die Festnahme auf einer Demo gab ihm dann Recht. Kollegen nannten ihn übrigens „Kofferträger“, aber das störte ihn nicht. Er wusste, dass er auf dem richtigen Weg war. Nach oben nämlich.

Als er 39 war, konnte er zufrieden seine zwei Kinderchen und Charlotte betrachten, die das Häuschen in seinem Sinne pflegte. Seinen Sohn wollte er männlich erziehen. Er brüllte ihn an, als der mit Schnee im Anorak nach Hause kam. „Verdammtes Weichei“, dachte er nur.

Schon mit 42 war er in der Partei dort, wohin er sich einst mit fünfzig geträumt hatte. Das Händeschütteln des ersten Mannes sollte er nie vergessen. Den Blick von Rosa allerdings sehr schnell – für weibliche Aufdringlichkeit hatte er nach wie vor nichts übrig. Ihren Brief zerriss er. „Rosa? Wer soll das sein?“, würde er später denken.

„Stärke und den Blick fürs Wesentliche“ versprach sein Wahlspruch, als er mit 51 stolz in die Kameras blickte und sich zum höchsten Amt gratulieren ließ. Seine Frau Charlotte stand neben ihm und strahlte in an, auch Tochter Sofia wirkte sehr fotogen. Nur Sohn Oliver blieb zum Entzug in der Klinik; ein Fakt, der den Journalisten entgangen war. Das hätte den bösen Buben bei den Zeitungen gefallen.

Die Meute bekam dann doch noch ihr Fressen, als sein Sohn vor laufenden Kameras aufkreuzte, eine Pistole hervorzog und den Vater niederschoss. „Selber Weichei“, murmelte er nur wirr, als die Polizei ihn mitnahm. Das Haus wurde dann später verkauft und Charlotte heiratete einen Architekten in Bonn. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte und Weicheier gabs da nicht mehr. Höchstens ein paar böse Buben.

Kürzestroman: Eine Ewigkeit

Sonntag, 26. August 2007

Sie stand wie so oft am Fenster, als sie ihn plötzlich die Straße heraufkommen sah. Er hatte sich kaum verändert, ein wenig schwerfälliger vielleicht. Aber er war es! Wollte er sie wirklich noch einmal besuchen, ihr alles erklären, alles ungeschehen machen? Sie schluckte und merkte, dass der Knoten in ihrem Hals nicht weichen wollte. Es tat weh, immer noch. Was sollte sie denn zu ihm sagen nach all den schweigsamen Tränen?
Einen Tee würde sie ihm anbieten, ja, der brachte Normalität; und sie würden über den Alltag reden, bis sie wieder frei atmen könnte. Und dann würde er sie in ihre Arme nehmen und alles wäre wieder gut. Wieder gut? Wie sollte das gehen? Sie hielt die Luft an. Warum klingelte er denn nicht? Hatte ihn schon wieder die Angst gepackt? Eine Ewigkeit verging und all die Bilder tauchten wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Dann sah sie ihn. Er ging wieder die schmale Straße hinunter, doch diesmal war sein Gang der eines alten Menschen.

Sie nahm sich von dem Tee und hielt die warme Tasse mit beiden Händen fest. Nie wieder. Dann lächelte sie erleichtert.

Kürzestroman: Ein Augenblick

Sonntag, 26. August 2007

Er stand ziemlich schwer atmend vor ihrem Haus und musste warten, bis sich sein Herzschlag wieder normalisiert hatte – der Aufstieg war mühsamer gewesen als früher. Dann starrte er die Namenschilder an der Haustür an. Ihr Name. Es würde ganz einfach sein, er musste nur klingeln, hey, ach du bists, öh ja, ich wollte nur einen Augenblick, aber klar, komm rein. Sie würde ihm womöglich eine Tasse Tee anbieten; ihm dabei vielleicht unsichere Blicke zuwerfen. Er könnte noch einmal am Küchenfenster stehen und den Ausblick auf die roten Dächer und den See genießen. Sie würden über Belangloses reden, während er sie in Gedanken schon an sich zog, sie küsste und alles vergessen war. Er könnte es tun. Sie würde wieder lachen und ihre Hände auf seine Schultern legen wie früher. Das würde sie. Vielleicht.
Er warf noch einen Blick auf die Namenschilder und wandte sich dann wieder der Straße zu. Nein. Kein Abschied, kein Wiedersehen; keine Träume mehr. Wer hatte das immer zu ihm gesagt? Nur allein bist du stark. Er ging.

Ihm wurde kalt.