Archiv für die Kategorie 'Fiktion'

Kürzestroman: Gefangen

Sonntag, 19. August 2007

Sie starrte ihre Fesseln an und wusste in diesem Moment, dass sie die Hoffnung aufgegeben hatte. Von nun an würde sie nicht mehr schreien oder um Hilfe flehen, sondern die Augen schließen und auf das Ende warten.
Die plötzliche Stille verwirrte ihn. All die Tage hatten an seinen Nerven gezehrt und immer wieder hatte er die verdammte Waffe in die Hand genommen und sich die Ruhe vorgestellt, die danach einkehren würde. Aber warum schrie sie jetzt nicht mehr, was war los?
Er blickte hinunter in die Grube.

Ihr fiel ein Lied ein, das vor langer Zeit ihre Großmutter gesungen hatte, so nebenbei beim Kochen oder Aufräumen. Die Melodie, ganz leise gesummt, veränderte ihr dunkles Gefängnis mit einem Schlag.
Er hörte Töne, ganz leise, traurige. Und plötzlich war er müde von all dem. Er wollte das nicht mehr. Schob vorsichtig die Leiter nach unten.
Sie sah in dem Moment die Sprossen, als sie endgültig aufgeben wollte. Zitternd stand sie auf.

reisekrank

Sonntag, 24. Juni 2007

Endlich saß sie im Flieger. Lehnte sich zurück in Erwartung diverser Häppchen und eines Ausblicks auf Wolken von oben. Alles war geschafft, der Koffer ohne Übergewicht eingecheckt, im letzten Moment noch an Badeanzug und Reisewecker gedacht. Fenster geschlossen, Blumen in Badewanne, Tiere zur Nachbarin, Herd abgestellt. Herd. Abgestellt? Sie hatte am Morgen noch ein Ei gekocht, man muss ja was im Magen haben, das hatte schon ihre Mutter immer vor einer Reise gesagt, also Eichen gekocht, ausnahmsweise den guten Eierbecher genommen, Topf abgewaschen, Herd abgestellt?
Vor ihrem geistigen Auge taucht eine glühende Herdplatte auf, rot-leuchtend, eigentlich schön. Darüber der Lüfter, schmelzendes Plastik, das sich langsam in die Wand frisst.
Sie schnallte sich an und schloss die Augen. Die Hände eiskalt. Sie hatte den Herd abgestellt!
Allmählich würde sich das Glühen und Zischen in loderndeFlammen verwandeln. Noch ahnten die Nachbarn nichts, saßen gemütlich vorm Fernseher, während in ihrer einsamen Wohnung eine Feuerwand wuchs. Die ersten, die Alarm schlagen würden, wären ihre Meerschweinchen, bei Frau Schmittbauer untergebracht. Sie würden wie wild pfeifen und den todbringenden Dampf entsetzt zur Kenntnis nehmen. Und keiner würde sie verstehen! „Die sind aber laut! Wollen die schon wieder was zu essen? Na ihr Kleinen, noch eine Karotte?“ Inzwischen wäre der brodelnde Lärm in ihrer Wohnung zwar zu hören, aber wer reagiert denn da? „Was bei denen wohl wieder im Fernsehen läuft?“
Den angebotenen Kaffee lehnte sie ab und die Stewardess schwebte lächelnd weiter. Gab es so etwas wie eine Notbremse in diesem Flugzeug? Man musste das Unglück verhindern!
Von der Straße wären Flammen sichtbar, die aus dem Fenster schlugen, und endlich würde jemand die Feuerwehr benachrichtigen. Riesige Löschfahrzeuge vor dem Haus, Lautsprecheransagen wie „Hier spricht die Polizei / Feuerwehr ( wie sagten die denn dann?) – bitte verlassen Sie umgehen das Haus, Achtung, es besteht Lebensgefahr, bewahren Sie Ruhe, kommen Sie mit erhobenen Händen …“ – ach nein, das war ein anderer Traum. Sie ließ sich ein Bier geben, das beruhigte. Inzwischen hoch über den Wolken (wo war die grenzenlose Freiheit? Grenzenlose Panik!), hätte sie sich wirklich entspannen können. War sowieso alles zu spät. Konnte man vom Flugzeug aus anrufen? Sie hatte mal gehört, dass ein Handy ein Flugzeug zum Abstürzen bringen konnte. Aber war dies nicht ein Notfall? Ihre Hand umschloss den Apparat in ihrer Tasche.
Die Schweinchen. Keiner würde sie retten, obwohl sie alle hätten retten können! Wenn die Menschen doch nur mehr auf die Tiere … zu spät. Sie würde heimkehren und vor rauchenden Mauerresten stehen. Verwahrloste Gestalten würden im Schutt wühlen und vor ihren Augen ihre Perlenkette aus der Schatulle ziehen, letztes Überbleibsel guter Tage. Sie würde zusammenbrechen, schluchzend, und dann würde man sie in eine Nervenklinik einliefern, wo sie den Rest ihrer Tage im Dämmerzustand verbringen würde. Nur beim Anblick eines Meerschweinchens würde sie in hemmungsloses Schluchzen ausbrechen oder Schreikrämpfe kriegen.
„Meine Damen und Herren, wir setzen nun zum Landeanflug an. Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug …“ Verbrecher, alle. Die waren daran schuld, die hatten ihr das Telefonieren nicht erlauben wollen, die hatten ihr Leben ruiniert!

„Hallo Frau Schmittbauer, ich bins, ich wollte nur mal fragen, ist alles in Ordnung?“ „Aber ja, machen Sie sich keine Sorgen, alles ist bestens, und Ihre kleinen Lieblinge haben ja so einen gesunden Appetit, gerade habe ich ihnen noch ein Stück Mohrrübe gegeben, tschüs, das wird ja sonst zu teuer, Sie machen sich ja immer viel zu viel Gedanken, viel Spaß noch!“. Sie legte auf. Vielleicht hatte sie den Herd ja doch abgestellt.

Ein erster Satz?

Dienstag, 19. Juni 2007

Ist schon ulkig, was es alles für Preisausschreiben gibt, um irgendwas zu bewerben. Literatur zum Beispiel. Jetzt suchen sie also den schönsten ersten Satz eines Werks, aha! Sollte man nicht gleich einen Haufen dramatischer / romantischer / anspruchsvoller Sätze liefern und die lesemüden Leser dann ankreuzen lassen?

Die heutige Auswahl:
1. Eine eiskalte Hand schloss sich um seinen Hals, und während er dem schmutzigen Asphalt entgegensank, sah er ein Gesicht vor sich, dass grauenhafter nicht hätte sein können.
(Du liebe Zeit, was für einen Quatsch schreibe ich denn da?)
2. All die Jahre hatte sie sich nach diesem einen Moment gesehnt, nach dem Moment, in dem er sie an sich ziehen würde, ihr und die Augen sehen und ihr die Frage aller Fragen stellen würde.
(Wird ja immer schlimmer …)
3. Er öffnete die Augen und sah!
(Na, der tut keinem weh, der Satz.)

Jedenfalls könnte man es dann doch gleich bei dem ersten Satz belassen!

Der abgeschlossene Roman: Einfach weg

Montag, 18. Juni 2007

Er kam nach Hause und wusste: Etwas war anders. Und als könnte er dadurch diese Veränderung, von der er noch gar nichts Konkretes wusste, ungeschehen machen, stellte er die Einkaufstaschen ganz besonders behutsam auf den Küchenboden; richtete sich dann zögerlich auf und holte tief Luft. Hatte er etwas vergessen? Nudeln, Bier, Klopapier … nein. Hatte er etwas gesehen, unbewusst, das jetzt langsam in sein Gehirn kroch und ihn später quälen würde? Nicht das er wüsste.
Er sah sich um. In der ganzen Wohnung. Öffnete sogar die Kleiderschränke! Und da wurde ihm klar: Sie war weg. Einfach weg. So war das also. Nach all den Jahren!

Er schloss die Kleiderschränke und räumte seine Einkäufe in Kühlschrank und Küchenregal. Vielleicht ein Verbrechen? Grausame Ermordung einer Mittfünfzigerin in Berlins Norden? Nö, dann hätte sie ihre Sachen nicht mitgenommen. Hatte sie auf ihre alten Tage noch einen knackigen Liebhaber aufgetan und war mit ihm durchgebrannt? Der Gedanke stieß ihn ab. Nicht doch seine Freda! Klopapier ins Bad geräumt. Das würde nun doppelt so lange reichen, jetzt, wo er alleine war. Hatte auch seine Vorteile.

Dann machte er es sich vor dem Fernseher gemütlich. Zum ersten Mal in seinem Leben würde niemand dabei zetern!
Er seufzte zufrieden.

Mini-Krimi: Mit Mephisto unter einer Decke

Donnerstag, 07. Juni 2007

Im Grunde war es ganz einfach – es kam nur auf die richtige Mischung an! Abends ein kleines Tröpfchen in den Abendtee. Morgens eine Prise unter den Kaffee gemischt … das musste doch einfach funktionieren. Dachte er. Denn mit anderen Mitteln würde er wohl nie aus dieser Zweisamkeit herauskommen; eine Gemeinschaft, die mehr war als eine Wohngemeinschaft: Eine Fessel! Anfangs hatte ihm sein lieber Professor angeboten, ein Weilchen bei ihm zu wohnen, das war sicher nett gewesen. Und da es in jener verträumten kleinen Universitätsstadt sehr schwierig war, eine angemessene Wohnstatt zu finden, hatte er gerne angenommen. Aber aus dem gemeinsamen Wohnen war mehr geworden. Zuerst eine zurückhaltende Männerfreundschaft, bei der nicht zu viel gesprochen wurde. Ein gemeinsames Bierchen am Abend, vielleicht ein Spaziergang am Sonntag. Doch dann fühlte er langsam, wie sich die Zuneigung des Lehrers wie Schlingen um ihn legten. Es konnte geschehen, dass er nachts aufwachte, aber nicht die Augen öffnete aus Angst, den anderen zu sehen: Am Bett stehend, ihn anstarrend. Er glaubte dessen Atemzüge zu hören. Was würde der machen, wenn er tief schlief?
Die Seltsamkeiten nahmen zu. Seine Zahnbürste fühlte sich plötzlich fremd an, als hätte sie jemand benutzt. Ihm wurde übel bei dem Gedanken. Die Papiere in seiner Schreibtischschublade wirkten umgeordnet, ohne dass er eine konkrete Veränderung benennen konnte. Und seine Wäsche schien über Nacht die Fächer zu wechseln.
Auszug? Niemals. Mit der Zeit war die Gemeinsamkeit so innig, dass daran nicht zu denken war. Einmal hatte er dem Alten gegenüber angedeutet, dass es da eine gewisse junge Frau gäbe und man womöglich zusammenziehen wollte. Er hatte dabei ganz vage und unbestimmt gesprochen, nur vorfühlen wollen! Wenige Tage später war seine Angebetete abends auf dem Heimweg von einem Unbekannten überfallen worden. Man fand ihre Leiche erst am nächsten Morgen, nicht weit von ihrem Wohnhaus. Erwürgt.
Danach war er vorsichtig geworden. Nur noch geheime Liebschaften ohne Zukunftspläne. Er wusste, dass der andere ihn in der Hand hatte. Der hätte seine Karrierepläne in Sekundenschnelle zerstört. Er wusste, er war ein Nichts ohne ihn. Und doch war nun der Punkt erreicht, da er es nicht mehr ertragen konnte.

Das Mittel wirkte sanft. Ein schläfrig-träumerisches Gefühl setzte ein, dessen sich der Vergiftete gar nicht bewusst war. Nun war der Junge es, der sich nachts in die Nähe des Alten schlich und ihm Dinge einredete, die nicht sein durften. Er konnte sehen, dass der andere nichts merkte, nichts verstand. Tag für Tag wurde die Stimme deutlicher und der Auftrag dringlicher: Finde sie. Finde die Eine, die dich lieben wird. Du bist jung, du bist klug!
Und der Alte zog los und sprach ein junges Mädchen an. Wie leicht es giing! Sicher war sie auch geschmeichelt, da sie der Herr Professor eines Blickes würdigte. Er genoss es, den Alten in seiner plötzlichen Verliebtheit zu sehen. Es ging fast zu glatt. Sie gab dem Alten nach. Sie wurde schwanger.

An diesem Punkt verlassen wir Herrn G aus W.. Er sitzt zurzeit in Untersuchungshaft; wurde festgenommen wegen Verdachts auf Vergiftung, eine junge Frau aus dem Ort hatte ihn angezeigt. Diese lebt jetzt mit einem angesehenen Universitätsprofessor in dessen Villa und erwartet ihr zweites Kind. Nachbarn sagen, dass das ungleiche Paar eine sehr glückliche Ehe führt und die junge Frau nur durch das seltsame Verhalten des ehemaligen Studenten ihres Mannes auf das Gift aufmerksam wurde. Ihr Mann sei wohlauf, heißt es.
Herr G. verbringt seine Tage meisten damit, auf die Gefängniswand einzureden. Aber keiner beachtet ihn sonderlich.

Fahrgastbefragung

Mittwoch, 07. März 2007

Sie kannte das schon: Ab und zu kam eine freundliche Fragetante in der U-Bahn auf sie zu, einen Block in der Hand. Und fragte unaufdringlich nach der Fahrt, den Umsteigebahnhöfen, vielleicht nach der Art der Fahrkarte. Also war sie heute nicht sonderlich überrascht und nickte bereitwillig, als sie angesprochen wurde:

„Entschuldigung, wir führen eine neue Fahrgastbefragung durch. Stört es Sie, wenn ich Ihnen ein paar ganz persönliche Fragen stelle?“
Nur los, dachte sie, hab mein Buch ja noch nicht rausgeholt.

„Welcher von den anderen Fahrgästen käme am ehesten als potenzieller Sexpartner für Sie in Frage?“
Sie sieht sich um und erblickt einen attraktiven Türken in Lederjacke, sagt aber nichts. Die Fragetante macht ein Kreuzchen auf ihren Block. Als sie sich vorbeugt, sieht sie verschiedene Ankreuzmöglichkeiten:
Dunkler Typ – Germanischer Typ – Desinteresse.
Vor dem dunklen Typ ist jetzt ein Kreuzchen.

„Nächste Frage: Wenn Sie über die Bierflaschenfrage in öffentlichen Verkehrsmitteln entscheiden dürften, was würden Sie bestimmen?“
– Raus mit den Kerlen mit Alkohol?
– Schmeißt nur die Flaschen raus?
– Darf ich auch mal nen Schluck aus der Pulle haben?
Sie muss nicht lange nachdenken und entscheidet sich für den Schluck.

„So. Jetzt würde ich gerne wissen, was Sie von einer einheitlichen Kleiderordnung halten. Sollten Personen, die nicht angemessen bekleidet sind (vor allem im Sommer) von so etwas wie Türstehern von der Fahrt abgehalten werden?“
Inzwischen nehmen auch die anderen Fahrgäste regen Anteil an den ganz persönlichen Fragen. Manche schimpfen über leicht bekleidete junge Frauen, andere über Maskierte in Kettenhemden. Sie entscheidet sich für die Antwort „Solange sie nicht stinken …“

„Dann wüsste ich als Nächstes gern, was Sie machen würden, wenn einer neben Ihnen zu rauchen anfinge.“
Da weiß sie die Antwort natürlich – sie würde sich auch eine Flumme gönnen.

„Ich muss mich wirklich für Ihre Geduld bedanken; all das dient dem harmonischeren Miteinander, darum ist es absolut wichtig, über die Bedürfnisse unserer Fahrgäste Bescheid zu wissen. Wie stehen Sie zu herabgesetzten Preisen von leichten Drogen in der BVG? Nach dem Motto ‚Berauscht durch Berlin‘?
Damit hat sie kein Problem und gibt ihr Kreuzchen für „Hey, gib mal die Tüte weiter, Alter“.

„Nun zum Schluss kommt noch unser kleiner Psychotest, dann sind Sie befreit. Wie würden Sie reagieren, wenn ein kräftiger Mann seine zarte Frau hier in der U-Bahn verprügeln würde?
– Selber schuld, die Kuh.
– Moment mal, ich such mal eben mein Tränengas.
– Hey Typ, komm mal her, ich zeig dir, was ich im Kampfkurs gelernt habe.
Sie muss sehr lange überlegen und nimmt dann den Kampfkurs. Schon den Mitfahrern zuliebe, die alle gespannt auf die Antworten warten. Am Ende sind alle zufrieden:
Die Fragetante hat ihre Antworten, sie hatte Unterhaltung und die anderen Fahrgäste erst recht. Als dann die Interviewerin verprügelt wird, schreitet niemand ein, weil man auf die Pointe wartet. Sie aber blinzelt dem attraktiven Türken zu.