Archiv für die Kategorie 'Fiktion'

Geschichte 3

Mittwoch, 24. Januar 2007

vielsam

So eine Klassenreise war schon anstrengend. Verdammt viel Lärm. Die Jungs spielten sich auf, wie immer. Die Mädchen hockten hinten im Bus zusammen und kicherten. Und er saß mal wieder allein in der ersten Reihe und starrte aus dem Fenster. Mit elf ist das Leben nicht einfach. Sogar viel komplizierter, als sich das die Großen so vorstellen. Die haben sowieso keine Ahnung, dachte er.
Er konnte ihre Stimme hören, wie sie mit den anderen lachte. Über ihn? Das wäre schrecklich. Diese Fahrt musste ihn aus der Ungewissheit befreien. Er hatte sich alles genau überlegt. Es gibt ganz unterschiedliche Mutproben. Er hatte sich seine selbst ausgemalt. Wenn sie ihn auslachen würde, wäre sein Leben zerstört, ohne Frage. Die Peinlichkeit würde er nicht aushalten. Andererseits: Ein Versuch? Und wenn sie ihn doch mochte, nur ein klitzekleines bisschen?
Der Bus hielt an. Pause, fünf Minuten!, brüllte der Lehrer. Alle stiegen aus, er blieb noch sitzen, hatte es nich eilig. Als sie an ihm vorbeiging, trafen sich ihre Augen für eine Sekunde. Und plötzlich lag da dieser Zettel neben ihm, ganz klein zusammengefaltet. Er nahm ihn.
Als er ausstieg, hatte sich etwas an ihm verändert. Es würde eine wunderbare Klassenfahrt werden!

Geschichte 2

Mittwoch, 24. Januar 2007

zweisam und dreisam

Sie wusste, es war heller Wahnsinn. Man darf einem Mann nicht einfach seine Gefühle gestehen! Es würde vielleicht ihr ganzes geordnetes Leben zerstören. Aber es musste raus aus ihr. Okay, Dummheit siegt, sagte sie sich. Und schrieb ihm einen Brief, wie sie noch nie einen geschrieben hatte. Von Gefühlen und Ängsten und Hoffnung.
Als er abweisend und verständnislos reagierte, war sie zunächst traurig. Aber dann: Erleichtert. Sie hatte etwas gewagt, was sie sich nie zugetraut hätte, eine Frechheit, ein Mut, der sie aus ihrem Leben riss! Obwohl es ein klares „Nein“ gewesen war, fühlte sie sich bereichert. Und liebte ihr Leben und ihre Mitmenschen mehr als zuvor. Unlogisch? Aber möglich. Denn sie wusste nun, dass sie zu sich selbst stehen konnte. (Und das muss man erst man schaffen.)

Geschichte 1

Mittwoch, 24. Januar 2007

einsam

Er saß an seinem Schreibtisch und starrte auf das Telefon. Dies war die letzte Möglichkeit, das wusste er. Den Hörer ergreifen. Die Nummer wählen. Es war doch eigentlich so einfach!
Damals, als Marie ihn verlassen hatte, war ihm noch nicht klar gewesen, wie einsam er sein würde. Heute tat es ihm richtig körperlich weh. Er nahm den Hörer in die Hand und starrte auf die Tasten. Es ging wie von selbst. Wenn wir an einem bestimmten Tiefpunkt angekommen sind, gibt es keine Peinlichkeit mehr, nur noch das Notwendige.
Sie meldete sich fast sofort. Hallo? Ich bins. Hey. Mensch. Können wir uns sehen? Ja. Ich habe so lange gewartet. Endlich. Wann? Gut, morgen. Ich freu mich.
Nur ein kleiner Handgriff! Aber er veränderte sein Leben. Plötzlich ging es auch wieder bergauf mit der Arbeit; die anderen meldeten sich wieder. Und der Hautausschlag verschwand. Zauberei? Nein.

Terror und Gewalt (erster Versuch einer Kürzestgeschichte)

Dienstag, 16. Januar 2007

Er wusste, es gab keinen Ausweg. Er musste es tun. Es stank ihm gewaltig, aber gegen dicke Luft gibt es Maßnahmen. Noch zwei Schritte. Ein Griff. Gegen das entsetzliche Geschrei halfen ihm Ohrenstöpsel. Bald würde auch der unerträgliche Gestank Vergangenheit sein. Auch wenn ihn jetzt noch Füße traten! Mit diesem Schmerz konnte er umgehen.
Brösi schnappte sich wütend eine der Windeln und hielt sich die Nase zu, als er das schreiende Gör freilegte. Nie wieder Babysittern für seine Schwester!

Keine Angst, es tut nicht weh

Sonntag, 14. Januar 2007

Denken Sie immer daran: Sie wollen nur unser Bestes. Also Schluss mit dem Murren. Ich weiß das, glauben Sie mir. Mein Name ist übrigens Otto. Otto Acht Fuffzehn. (Ich weiß, ein komischer zweiter Vorname, aber meine Mutter hatte damals diese Idee …)

Neulich auf dem Bürgeramt wurde es mir zum ersten Mal klar: Die tun was! Da wollte ich einen neuen Reisepass. Mit allem Schnickschnack! Fingerabdruck. Auge gescannt. Foto ohne Lächeln, von vorne, damit man mich auch in Amiland reinlässt. Und da fragten die mich doch glatt: Haben Sie denn auch schon eine S-Genehmigung?

S? S wie „Sonder-„? Ja. Das klingt doch richtig gut, finden Sie nicht? Bei meinem Handy ist es mir ja schon eine ganze Weile aufgefallen. Ausgabe „S“ stand da. Bitte nicht abschalten. Also lasse ich es natürlich an, schließlich dient das ja auch meiner eigenen Sicherheit.

Die Kameras in den Bahnen, Banken und über meinem Schreibtisch finde ich im Prinzip auch gut. Da kann mir nichts passieren. Und sie tun doch niemandem weh. Wer nichts zu verbergen hat, soll das gefälligst einsehen. Denn die Gefahr lauert schließlich überall. Von denen, Sie wissen schon.
Dass das Navigationssystem in meinem Wagen sich jetzt immer automatisch einschaltet, fand ich anfangs ulkig. Die sanfte Stimme leistet mir jetzt morgens auf dem Weg ins Büro Gesellschaft, da kann man nicht meckern. Ist doch auch beruhigend, finden Sie nicht? Zu wissen, dass da jemand ist, der mich beschützt. Ich bin nirgends allein. Gut.
Neulich erzählten mir meine Kinder begeistert von ihrem neuen Schulprojekt: „Öffne die Augen!“ Ja, toll, was? „Sehen und berichten“ heißt die Devise, und die beiden finden das echt cool. Sie bekommen kleine Kärtchen mit Bonuspunkten, wenn sie etwas Ungewöhnliches weiterleiten. Etwas Andersartiges, Fremdartiges eben. Die Idee stammt übrigens von dem neuen Lehrer, meinten sie. Na also, geht doch! Meine Rede: Es tut sich was.
Jetzt bin ich doch mal gespannt, ob ich die Sonderkarte kriege. Die bekommt nämlich nicht jeder, nö, da muss man schon was Besseres sein. Einsatz zeigen! Ich habe einen kleinen, nicht belastenden Bericht über meine Nachbarn geschrieben, weiter wollten die nichts von mir. Und überhaupt: Meine Nachbarn sind selber schuld, wenn man sie auf dem Kieker hat!

Ach, wo wir gerade dabei sind: Was haben Sie eigentlich gestern Abend gemacht? War nicht abgemacht, dass der Rechner angeschaltet bleibt? Was sollen die Heimlichkeiten? Ich kann hier alles sehen, müssen Sie wissen. Nur so als kleine Warnung. Ist schließlich auch gut für Sie.

nein iläwn

Dienstag, 09. Januar 2007

Er war lange Zeit nicht mehr in Berlin gewesen. Alles schien so fremd. Schon dass man Kochstraße aussteigen und dann immer weiter nach Norden gehen konnte, zu Fuß, die Friedrichstraße entlang! Unfassbar. Dafür hatten seine Mitmenschen natürlich wenig Verständnis. „Amerikaner“, dachten sie vielleicht, und das wars dann. Obwohl er ja auch aus Deutschland kam.

An jenem Morgen wollte er die S-Bahn nehmen, die Ringbahn – auch so eine fantastische Änderung. Das wäre praktisch gewesen zu seiner Studienzeit, nicht mit der öden U7 durch die halbe Stadt! Damals. Er träumte vor sich hin. Hier in Neukölln hatte sich nicht so viel geändert, die Karl-Marx-Straße sah fast so aus wie vor dreißig Jahren. Die Brücke des S-Bahnhofs, auf der er jetzt stand, hatte er oft gesehen. Und nicht beachtet.

Alle Leute um ihn herum wirkten gelassen. Gelangweilt. Ein ganz normaler Morgen für sie. Man wartete auf den Zug. Die Anzeige: Noch zwei Minuten. Er starrte ebenso vor sich hin. Hörte dann das Motorengeräusch. Blickte auf, über die Dächer Neuköllns: Ein Flugzeug! Klein, mit Propellern. Es näherte sich der Stadt. Panik ergriff ihn. Ja sahen sie denn nicht die Gefahr? Hörten sie es nicht? Immer tiefer ging es, schon fast streifte es die Häuser. Und immer noch dieser Stumpfsinn bei seinen Mitmenschen. Nein! Das durfte nicht sein! Gleich würde es krachen, Schreie, Sirenen. Und niemand wollte etwas tun, weil hier in dieser Stadt offenbar nur noch Gleichgültigkeit regierte. Immer näher. Lauter.

Da fing er an zu schreien. Er rannte los. Schüttelte die Passanten, brüllte sie an. „Man muss was tun!“, und „Nein, nein!!“. Sie sahen ihn verständnislos an. Ja waren sie denn blind? Zu spät, nur noch wenige Sekunden!

Ein älterer Herr klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. „Keine Panik, junger Mann. Det is hier immer so. Da drübn is der Flughafen Tempelhof, wissense.“

Beschämt verließ er den Bahnsteig, unter mitleidigen Blicken. Morgen ging sein Flug zurück nach New York. Nach Berlin würde er so schnell nicht mehr kommen.