Archiv für die Kategorie 'Fiktion'

darfmannich

Sonntag, 07. Januar 2007

Cornelia ist gut erzogen. Das konnte man gleich merken, als sie vor drei Jahren nach Berlin kam: Da beeindruckte sie die Kinder am Straßenrand, als sie ordentlich bei Rot an der Ampel stehen blieb. Dumm nur, dass der irre Rechtsabbieger sie fast mitgeschleift hätte, als sie sich schließlich bei Grün auf die Fahrbahn wagte. Sein boshaftes Grinsen übersah sie selbstverständlich.

In der U7 auf dem Weg zur Uni wurde sie mehrfach angesprochen. Vielleicht lag das an ihrem ländlich-soliden Mantel, der den jungen Großstadtmännern Eindruck machte? Oder waren es ihre glatten, blonden Haare? Gefallen hat ihr das nicht, aber sie lächelte nur schüchtern und abweisend.

Auch in der S-Bahn hätte sie anfangs vor lauter Höflichkeit fast gefragt, ob der Platz noch frei sei! Wie das in ihrer ländlichen Heimat üblich war. Aber sie konnte sich gerade noch bremsen; besser so.

Anfangs machte ihr die Stadt Angst. Vor allem der nächtliche Heimweg vom Rathaus Neukölln zur Sonnenallee machte ihr zu schaffen. Aber sie gewöhnte sich daran. Auch der Gang durchs nächtliche Treppenhaus rauf zu ihrer Mietwohnung war gewöhnungsbedürftig. Streitigkeiten der Nachbarn waren durch die Wohnungstüren zu hören. Unangenehm, aber Cornelia überhörte sie.

Irgendwann änderte sich das alles. Gute Erziehung schön und gut. Aber als ein Typ ihr an der Karl-Marx-Straße auf den Schuh spuckte, da war es aus. Sie erstarrte. Sah ihn an und brüllte los. Was das solle, so’ne Sauerei, ob er nich besser zielen könne! Das Mann war sprachlos und entschuldigte sich dann bei Cornelia. Das machte sie nachdenklich.

Heute nennt sie sich Nelia, das klingt cooler. Wenn ihr ein Autofahrer den Vortritt nimmt, hat sie einige strafende Handbewegungen parat, die wir hier nicht genauer beschreiben wollen. Danach fühlt sie sich besser. Die Farbe der Ampel kümmert sie nicht mehr sonderlich. Den Mantel hat sie gegen eine Lederjacke getauscht und den Pagenschnitt gegen eine asymmetrische Kurzhaarfrisur. Dunkel gefärbt. Dadurch wird sie jetzt weniger angesprochen, was ihr sehr angenehm ist. Auch der Heimweg ist jetzt sicherer; manchmal wechseln Frauen vor ihr die Straßenseite, weil sie sie für einen Mann halten. Auch egal.

Nelia besucht jetzt einen Sprachkurs an der Volkshochschule: Arabisch für den Kiez. Als gestern ein junger Typ auf sie zuging und sie anquatschte von wegen „schnell mal zu ihm, tolle Nummer“ und so, da fauchte sie ihn auf Arabisch an, was das denn solle und wo seine gute muslimische Erziehung bleibe! Da war der völlig platt und verdrückte sich schnell.

Im Treppenhaus ruft sie nun auch mal ein munteres „Kanns auch ’n bisschen leiser sein?“ in die Runde, was tatsächlich ein Weilchen für Ruhe sorgt.

Und wenn jetzt einer im U-Bahnhof raucht, verzieht sie sich nicht mehr bekümmert ans andere Ende des Bahnsteigs, um keinen Asthmaanfall zu kriegen. Nein, sie geht zu dem Raucher und meint ganz gelassen: „Hey Alter, kannste mal den Stinkestängel ausmachen, det is echt widerlich!“ Dabei sieht sie den Missetäter so finster an, dass die Botschaft gut rüberkommt!

Gut erzogen zu sein ist ja schön und gut. Aber in Neukölln sieht das eben ein bisschen anders aus.

Straßenkind

Sonntag, 07. Januar 2007

Immer wenn Ronni in die S-Bahn einstieg, hängte er sich an eine Person, meist eine Frau, neben die er sich dann setzen konnte. Schließlich ist auch Schwarzfahren eine Kunst, die man immer noch ausbauen kann. Und auch ein Achtjähriger kann darin richtig gut sein. Mit unschuldigen Kinderaugen schaute er sich um, ob nicht ein geeignetes Opfer in Sicht war. Denn für ihn gab es immer verschiedene Kathegorien: Träger, Opfer und Fluchthelfer. Davon ahnten die Fahrgäste natürlich nichts. Sie gingen ihren üblichen Beschäftigungen nach: In der Tasche nach einem Taschentuch suchen; Bonbon auspacken; andere beobachten; sich Notizen darüber machen … Ronni hatte mit der Zeit einen Blick dafür entwickelt, wer ihm etwas einbringen konnte. Die alte Dame mit dem Kaugummi und den Fellhandschuhen? Nein, solche keiften immer schnell los: „Was soll denn das, wo sind denn deine Eltern, das geht doch nicht!!“ Der gemütliche Student mit dem Schmöker? Ja! Der wollte erstens schnell weiterlesen, sprich: seine Ruhe. Und zweitens hatte der mehr Verständnis für arme, hungrige Großstadtjungs. Also dann!

An diesem Tag lief alles ein bisschen anders. Vielleicht hätte das Ronni schon früh zu denken geben sollen, aber er war so an Veränderungen gewöhnt, dass es ihm nicht auffiel! Eine Studentin war es, die in ihr Buch vertieft war. „Die Mörder sind überall“ oder so ähnlich hieß es, aber das interessierte Ronni nicht sonderlich. Er stand auf (seine Nachbarin war diesmal eine etwa vierzigjährige Mutter mit einem Mädchen) und lehnte sich zu der Studentin runter. Sie blickte kurz irritert auf und las weiter. Er flüsterte ihr zu: „Bitte, helfen Sie mir.“ Sie hob erneut den Blick. „Hä?“ „Sie sind hinter mir her. Wenn ich nicht alles tue, was die zu mir sagen, bringen sie mich um!“ Die Studentin konnte sich nun nicht länger auf ihr Buch konzentrieren. „Was is los? Spinnst du?“ Diese Art von Reaktion kannte er schon, darauf war er gefasst. „Ich kann nur kurz mit Ihnen sprechen, jetzt sehen sie gerade nicht her. Ich bin in einer Sekte, und die lassen mich nicht ziehen! Schnell, geben Sie mir zehn Euro, dann kann ich mich befreien!“ Er flüsterte, so leise er konnte, doch musste er auch das Dröhnen der Bahn übertönen. Die junge Frau starrte ihn an und schrie plötzlich auf! Das etwa war der Zeitpunkt, da Ronni vermutete, dass sein Plan dieses Mal nicht funktionierte. Also sie schrie jedenfalls mit einer ziemlich hysterischen Stimme auf, packte ihn fest an beiden Armen, starrte ihm in die Augen und sagte kann ganz leise zu ihm: „Ronald. Du bist es! Verdammt, seit zwei Jahren suche ich nach dir! Du kommst jetzt mir und Schluss mit dem Theater!“

Ronni trottete an jenem Tag sehr betrübt hinter seiner großen Schwester her. Sein Leben auf der Straße und mit den anderen Jungs war erst einmal beendet. Schluss mit der Freiheit! Die anderen in der S-Bahn hatten übrigens gar nichts bemerkt.

Zwergenaufstand

Samstag, 06. Januar 2007

Zunächst ist alles normal an jenem Morgen. Die Ringbahn S41 Richtung Westkreuz sammelt 7.51 Uhr in Neukölln all die ein, die kurz zuvor noch die Bahn Richtung Hermannstraße haben sausen lassen. Man will ja schließlich nicht umsteigen. Ruhige Stimmung. Ein paar Büroangestellte unterhalten sich über einen Kollegen. Eine Frau Mitte dreißig gibt hektisch etwas in ihr Handy ein. Die meisten starren aus dem Fenster oder auf ihre Lektüre. Hermannstraße. Die Türen öffnen sich. Neue Passagiere steigen zu. Und Zwerge. Nein, keine kleinwüchsigen Menschen, die man so auch nicht nennen darf. Eher Wesen von menschlichen Proportionen, die aber kaum über dreißig Zentimeter groß sind. Sie drängen durch verschiedene Türen ins Abteil, verteilen sich überall. Nehmen auf den wenigen übrigen Sitzplätzen Platz, indem sie sich mühsam hochhieven. Sie helfen sich gegenseitig (Räuberleiter), sie hüpfen oder halten sich an etwas fest (Mantel eines Sitzenden beispielsweise). Dann wieder Ruhe, Weiterfahrt Richtung Tempelhof. Eine sehr lange Strecke zwischen zwei Bahnhöfen. Viele Blicke wandern hier automatisch auf das Flughafengelände. Heute aber sind die meisten abgelenkt. Was sind das für kleine Wesen? Sie sitzen, lassen ihre Beine baumeln, ohne kindlich zu wirken, lächeln freundlich, wenn jemand sie anstarrt. Was natürlich kaum passiert, man weiß um diese Uhrzeit, wie man sich zu benehmen hat. Und wie man seine Mitmenschen ignoriert, um ignoriert zu werden. Aber sind das denn Mitmenschen? Sie haben winzige Füße und Hände, aber nicht rundlich-niedlich, sondern einfach kleiner. Auch ihre Kleidung fällt in keiner Weise auf. Und doch kann sich kaum einer auf sein Buch konzentrieren, immer wieder wandern verstohlene Blicke zur Seite. Keiner wagt, die kleinen Fremden anzusprechen, das wäre völlig unberlinerisch. Und auch die Zwerge sind still. Bis einer anfängt, vor sich hin zu summen. Zunächst ganz leise. Ein Zweiter stimmt ein; es ist eine ganz eigenartige Melodie, die die menschlichen Fahrgäste benommen macht. Nach und nach summen alle Zwerge, es ist wie ein elektronisches Signal. Nicht unangenehm, doch verwirrend. Die Leute schließen ihre Augen und lehnen sich zurück. Sie erstarren. Das ganze Bild in der S-Bahn erstarrt, bis auf die freundlichen kleinen Wesen. Halt, ein junger Mann will aufstehen, sein Walkman dröhnt ihm Heavy Metal in die Ohren, er hat überhaupt nichts bemerkt. Aber die Kleinen springen auf, zerren ihn nieder. Das Lächeln ist jetzt verschwunden. Sie nehmen ihm die Beschallung ab und auch er erstarrt. Sie tragen ihn zu sechst auf seinen Sitz zurück. Die nervöse Stimme des Fahrers ist plötzlich zu hören: „Meine Damen und Herren, bitte bewahren Sie Ruhe, es ist alles in Ordnung, wir haben alles unter Kontr…“ Auch er verstummt und der Zug hält mitten auf der Strecke. Die Zwerge können die Türen öffnen und verschwinden.

Was aber passierte später mit den Erstarrten, mit den ganzen Zug? Mit einem Spezialkran wurde er auf ein Nebengleis gestellt. Die Angehörigen verlangten zwar eine ordentliche Überstellung der Betroffenen, doch war es nicht möglich, auch nur einen Körper aus dem S-Bahnwagen zu entfernen. So ließ man alles, wie es war und eröffnete eine Ausstellung „Momentaufnahme in der S-Bahn“. Da den Körpern jede Fleischlichkeit abhanden gekommen war, gab es auch keine hygienischen Bedenken.

Der Eintritt kostet 2 Euro. Berühren der Exponate verboten.