Archiv für Januar 2007

Neukölln – von außen und von innen

Sonntag, 14. Januar 2007

Ich versuche mir vorzustellen, wie jemand diese Gegend empfindet, der ganz fremd ist. Vielleicht frisch vom Bodensee, mal Großstadtluft schnuppern. Was sieht man? Müll auf der Straße. Eine ausrangierte Matratze, offensichtlich einfach aus dem Fenster geschmissen. Hundehaufen (vorhin wieder einer reingetreten, der Arme). Dunkle Gestalten huschen unter der S-Bahn-Brücke Neukölln durch. Bloß nicht angesprochen werden. Zumindest jetzt um diese Tageszeit nicht! Bei Licht: Menschen, die ungewöhnliche Kleidung tragen. Denn das muss ich schon sagen: Man kann ja rumlaufen, wie man will. Fast auch machen, was man will. Solange es nicht zu sehr nervt, die anderen, meine ich.

Wahrscheinlich ist der Besucher frisch aus der Provinz entsetzt. Dazu noch die ganzen Gerüchte und Berichte über Neukölln! Nichts wie weg.

Dann betrachte ich meine Wohngegend mal mit meinen Augen, ohne panische Distanz: Okay, immer noch der Müll. Man sollte halt aufpassen, dass man in nichts reintritt. Ansonsten ignorieren, wie so vieles. Besoffene? Nicht ernst nehmen, die spülen nur ihren Frust runter und beißen nicht. Finstere Typen? Ach was. Allzu elegant sollte man sich hier wirklich nicht kleiden, overdressed is nich. Also: Verwandle dich auch in eine finstere Gestalt. Cool. Gelassen. Wenn nötig, sogar freundlich, um die Verschreckten zu beruhigen. Und dann merkt man, dass hier ganz normale Menschen leben. Die Mieten sind günstiger als woanders. Man kann billig einkaufen. Es ist alles ein bisschen bunter. Es gibt spannende Hinterhöfe, die ganz anders aussehen als die Fassade des Hauses. Und sicher gibt es auch irgendwo Kriminalität. Aber deshalb reagieren die Leute auch schneller, wenns nötig ist! (Neulich von den Schüssen in der Nogatstraße weiß ich nur aus der Zeitung. Man kriegt das nämlich nicht mit, wenn was passiert.) Gut, das häufige Tatütata von irgendwelchen Krankenwagen oder Polizeieinsätzen stört manchmal. Aber auch nicht wirklich.

Ehrlich, ich kann es noch eine Weile hier aushalten. Heute Richardplatz und das böhmische Dorf gesichtet, auch die Rixdorfer Schmiede: Sonntagsausflug. Anschließend Döner und türkischen Tee. Mit viel Zucker!

Keine Angst, es tut nicht weh

Sonntag, 14. Januar 2007

Denken Sie immer daran: Sie wollen nur unser Bestes. Also Schluss mit dem Murren. Ich weiß das, glauben Sie mir. Mein Name ist übrigens Otto. Otto Acht Fuffzehn. (Ich weiß, ein komischer zweiter Vorname, aber meine Mutter hatte damals diese Idee …)

Neulich auf dem Bürgeramt wurde es mir zum ersten Mal klar: Die tun was! Da wollte ich einen neuen Reisepass. Mit allem Schnickschnack! Fingerabdruck. Auge gescannt. Foto ohne Lächeln, von vorne, damit man mich auch in Amiland reinlässt. Und da fragten die mich doch glatt: Haben Sie denn auch schon eine S-Genehmigung?

S? S wie „Sonder-„? Ja. Das klingt doch richtig gut, finden Sie nicht? Bei meinem Handy ist es mir ja schon eine ganze Weile aufgefallen. Ausgabe „S“ stand da. Bitte nicht abschalten. Also lasse ich es natürlich an, schließlich dient das ja auch meiner eigenen Sicherheit.

Die Kameras in den Bahnen, Banken und über meinem Schreibtisch finde ich im Prinzip auch gut. Da kann mir nichts passieren. Und sie tun doch niemandem weh. Wer nichts zu verbergen hat, soll das gefälligst einsehen. Denn die Gefahr lauert schließlich überall. Von denen, Sie wissen schon.
Dass das Navigationssystem in meinem Wagen sich jetzt immer automatisch einschaltet, fand ich anfangs ulkig. Die sanfte Stimme leistet mir jetzt morgens auf dem Weg ins Büro Gesellschaft, da kann man nicht meckern. Ist doch auch beruhigend, finden Sie nicht? Zu wissen, dass da jemand ist, der mich beschützt. Ich bin nirgends allein. Gut.
Neulich erzählten mir meine Kinder begeistert von ihrem neuen Schulprojekt: „Öffne die Augen!“ Ja, toll, was? „Sehen und berichten“ heißt die Devise, und die beiden finden das echt cool. Sie bekommen kleine Kärtchen mit Bonuspunkten, wenn sie etwas Ungewöhnliches weiterleiten. Etwas Andersartiges, Fremdartiges eben. Die Idee stammt übrigens von dem neuen Lehrer, meinten sie. Na also, geht doch! Meine Rede: Es tut sich was.
Jetzt bin ich doch mal gespannt, ob ich die Sonderkarte kriege. Die bekommt nämlich nicht jeder, nö, da muss man schon was Besseres sein. Einsatz zeigen! Ich habe einen kleinen, nicht belastenden Bericht über meine Nachbarn geschrieben, weiter wollten die nichts von mir. Und überhaupt: Meine Nachbarn sind selber schuld, wenn man sie auf dem Kieker hat!

Ach, wo wir gerade dabei sind: Was haben Sie eigentlich gestern Abend gemacht? War nicht abgemacht, dass der Rechner angeschaltet bleibt? Was sollen die Heimlichkeiten? Ich kann hier alles sehen, müssen Sie wissen. Nur so als kleine Warnung. Ist schließlich auch gut für Sie.

„Wenn das alle täten!“

Sonntag, 14. Januar 2007

Auch so ein Spruch, der mich wahnsinnig macht. Es gibt nichts, was alle tun. Dazu sind wir ja eine Gemeinschaft von unterschiedlichen Wesen! Auch, um andere mitzutragen.

Nina hat zur Party nichts mitgebracht und es ist ihr extrem unangenehm. Aber sie hatte einfach keine Zeit / kein Geld / keine Gelegenheit, was solls. Geli zischelt unfreundlich: Wenn das alle täten! Das gäbs nichts zu essen hier!

Man sollte einfach mal ein bisschen nachdenken, bevor man diesen Spruch loslässt. Er verrät auch zu sehr, wes Geistes Kind einer ist – wär mir jedenfalls peinlich.

Schnorrer

Freitag, 12. Januar 2007

Na so was: Da stoße ich zufällig auf einen Wikipedia-Artikel über das Verb schnorren. Und ich erfahre: Der Schnorrer war früher im Judentum ein Bettler, der durch seine Existenz dem Gläubigen ermöglichte, Barmherzigkeit zu üben. Wie interessant! Der Gute ist also der, der die Gabe annimmt, nicht der Spender. Der muss nur sein Sündenregister verringern.

Mensch. Ich habe gleich eine kleine Münze unterwegs gespendet und mich besser gefühlt. Wenn wir schon keine zwanzig Rosenkränze mehr beten dürfen, zum Ablass meine ich.

Das Wort selbst kommt vom schnarrenden Instrument des Bettlers. Was immer das dann war.

Farbenspiele

Donnerstag, 11. Januar 2007

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Zur Arbeit

Donnerstag, 11. Januar 2007

Die Augen: Geschlossen. Keiner spricht. Gegenüber raschelt eine Zeitung. Neben mir raschelt eine Tüte vom Bäcker. Gemütliches Kauen. Ein kleiner Duft nach Kaffee. Ein Fiepen irritiert mich, bis ich merke, dass da ein Hund leidet, der nicht gerne S-Bahn fährt. Armes Tier. Frauchen streichelt.

Die Augen: Kurz geöffnet. Staunen. Der Himmel ein unglaubliches Bild! Kurzer Gedanke an China: Der Osten ist rot. Am liebsten würde ich meinen Nachbarn anstoßen, Mensch, sehnse mal, der Sonnenaufgang! Aber das gehört sich nicht. Und wer weiß, vielleicht würde der ihm gar nicht so gut gefallen wie mir. Die Geschmäcker sind ja doch verschieden.
Meine Lektüre bleibt in der Tasche. Ich kann den Blick einfach nicht abwenden. Rosa-orange Streifen, verschiedene Schichten, das Grau wird vertrieben. (Kitsch pur, sowas darf man ja nicht malen) Der Zeitungsleser von gegenüber faltet sein Blatt zusammen und hebt den Blick: und erstarrt verblüfft.
Ha, es hat ihm auch gefallen!

Na also. So fängt doch ein Tag gut an.