Andreas 32

Samstag, 21. April 2007 23:27

Samstag: Wieder stand Andreas im Supermarkt und betrachtete lustlos die geschmacklosen Frühlingsäpfel, während er an ganz anderes dachte: Verdammt, wieso ist dieser Samurai so ein langweiliger Heini? Was wollen meine Leser? Sex und Crime, versprochen ist versprochen. Und was kriegen sie? Leere Tatamiböden und ein Schwert auf dem Tisch des Kommissariats. Mist. Irgendetwas lief da schief.
Daher war es nicht verwunderlich, dass er beim Einkaufen die Hälfte vergaß und später die Haustür besonders ruckartig öffnete. Und dann mit Schwung mit Noemi Müller zusammenstieß und seine Taschen fallen ließ. Kein Wunder, wie gesagt. Verwunderlich war es allerdings, dass Noemi keinen angewiderten Schreikrampf bei seinem Anblick bekam, sondern ihm einfach lachend half, eine Chipstüte, drei Orangen und eine mutige Dose Bier wieder einzusammeln. Dann ging sie allerdings.

Abends in ihrer Wohnung brauchte Nina einige Zeit, um die Anspannung des Tages loszuwerden. Was hatten die Kollegen sie gelöchert! Woher das Schwert stammte, wie sie ihn gefunden hatte, warum sie nichts gesagt hatte … sie hatte sich mehr schlecht als recht rausgeredet und ihnen eine ziemlich abenteuerliche Geschichte aufgetischt. Die Wahrheit wäre einfach zu abenteuerlich gewesen. Sie zog sich ihre Haarstäbchen aus den aufgesteckten Haaren, schüttelte die rote Mähne und seufzte tief. Dann musste sie noch einmal seufzen; diesmal vor Behagen und Erleichterung. Er war von hinten an sie heran getreten und hielt sie nun mit einem Mal umfasst, als wollte er sie nie wieder loslassen. Sie erzitterte kurz. Was, wenn er sie bestrafen wollte? Sie ahnte, was die Waffe ihm bedeutet hatte. „Ich musste es tun, glaub mir!“, begann sie ihre Erklärung, noch bevor er fragte. „Du würdest sonst nie aufhören, und sie brauchen diesen Beweis.“ Er schüttelte unwillig den Kopf. „Was redest du da für einen Unsinn?“, murmelte er, und es war das erste Mal, dass sie seine Stimme hörte. Sprich weiter, dachte sie, und bezaubere mich wieder wie neulich im Park. So dicht bei ihm war sie völlig wehrlos. Selbst wenn er sie nicht festgehalten hätte.

Andreas wurde langsam munter. Ja, so sollten Frauen doch gefälligst sein! Erst aufmüpfig-verlockend, und dann Wachs in seinen Armen, jawoll. Wie die von unten sich wohl verhalten würde, mit einem so starken Samurai-Mörder im Wohnzimmer?

Dann schwiegen sie eine ganze Weile. Nina schloss die Augen und lehnte sich an ihn, ob er nun Feind oder Freund war. Sie war bereit für seine Entscheidung. Er atmete den Duft ihrer Haare und ihrer Haut und seine Wut verrauchte. Doch immer noch hielt er sie eisern fest. Und während er sie so an sich presste, merkte er, wie sich etwas in seiner Leibesmitte regte, mit dem er nicht gerechnet hätte. Es traf ihn wie ein Blitzstrahl, und genauso schnell ließ er sie auch los. Sie aber entfernte sich nicht, sondern drehte sich langsam zu ihm um. Sah ihm endlich in die Augen. Dann küsste sie ihn. Sie küssten sich, wie sie noch nie geküsst hatten, sehnsüchtig, verzweifelt. Sie nahm ihn schließlich bei der Hand und zog ihn sanft ins Schlafzimmer.

Andreas öffnete die Bierdose und kühlte sich etwas ab. Jetzt an dessen Stelle, das wärs! Die beiden würden hemmungslos über einander herfallen, ganz klar, das wäre Erotik vom Feinsten, Lust und Wut und Verzweiflung eines einsamen Rächers, der zum ersten Mal jemanden gefunden hatte, der ihn verstand. Wieso verstand ihn, Andreas, denn niemand? Wieso hockte er hier allein in seiner blöden Neuköllner Altbauwohnung rum, während ganz Berlin es gerade trieb?
Jetzt öffnete er auch noch die Chipstüte.

Andreas 31

Samstag, 21. April 2007 00:33

Schon in dem Moment, als er in seine Wohnung eintrat, spürte er, dass etwas anders war. Doch wie gewohnt streifte er zunächst seine Schuhe ab, murmelte im Geiste sein vertrautes „Tadaima!“, was in Japan immer das Heimkehren für ihn begleitet hatte. Seine Mutter hatte sich dann immer den Spaß gemacht und ganz traditionell japanisch mit „Okaerinasai!“ geantwortet, „Schön, dass du wieder zurück bist!“. Nun antwortete ihm natürlich niemand mehr; und das war auch besser so. Barfuß durchquerte er den Tatami-Raum, der ihm zur Meditation diente (es war teuer genug gewesen, die Strohmatten in Deutschland zu beschaffen), und wollte gerade sein Arbeitszimmer betreten, da fühlte er sich plötzlich wie in eine Szene in Zeitlupe versetzt. Nichts war mehr wirklich. Seine Augen bohrten sich in die leere Stelle an der Wand, an der noch am Morgen sein Schwert gehangen hatte, und der Schrei, hätte man ihn hören können, hätte ganz Berlin erschüttern müssen. So aber zerriss er ihn nur innerlich.

Andreas schüttelte ärgerlich den Kopf. So ein Jammerlappen! Müsste doch viel cooler sein, Schwert hin oder her. Er selbst wäre als grimmiger Rächer bestimmt gelassener, ha! Er lehnte sich genüsslich zurück und freute sich, Herr über den Herrn des Schwertes zu sein. Er könnte ihm natürlich auch etwas mehr Männlichkeit schenken, Nina war ja auch bereit, ihn zu schätzen. Vielleicht, so dachte er. Mal sehn. Wenn ich mich dazu herablasse …

Als er heimkehrte, spürte er sofort eine besondere Schwingung in seinen Räumen. Konnte es sein, dass jemand seine Matten betreten hatte, dass jemand diese Dreistigkeit besessen hatte? Wie jeden Abend setzte er sich zunächst in die Mitte seines japanischen Raums, der nur mit Tatami-Matten und einem Wandbild ausgestattet war. Vor dem Bild ein Gesteck aus drei Pflanzen, die er jeden Tag erneuerte: Sie verkörperten Kraft, Schönheit und Angst.
Er schloss die Augen und lauschte in sich und in die Welt. Und da konnte er sehen, was er mit geöffneten Augen nicht bemerkt hatte: Das Schwert war verschwunden.
Er erhob sich. Sie war zu weit gegangen!

Andreas 30

Dienstag, 17. April 2007 21:19

Er starrte auf den Bildschirm seines Fernsehers und hatte plötzlich überhaupt keine Lust mehr, seine Heldenhaftigkeit zu erproben. Was sah er da? Schlimmster Amoklauf in den USA, 23-jähriger koreanischer Student durchgedreht? Andreas stellte seinen Fencheltee zur Seite und ging in die Küche: nachsehen, ob ganz zufällig eine Flasche Bier in seinem Kühlschrank gelandet war. Das hätte ihm jetzt gut getan. Stattdessen versuchte er sich mit seinen Heuschnupfentropfen zu trösten. Vielleicht dämpften sie ein bisschen das Böse dieser Welt. Wenigstens das winzig kleine.

Katastrophensitzung im Kommissariat. Alle waren sie gekommen, und alle starrten nun Nina an, die eine Stunde zuvor nervös behauptet hatte, etwas über den „Schwerträcher“ zu wissen. Eckart bohrte seinen Bleistift in den Tisch und gab sich betont desinteressiert. Einige glotzten aus dem Fenster. Schließlich, als langsam Ruhe eingekehrt war, erhob sie sich und ging nach vorne. Sah sie alle an und klatschte dann einmal und triumhierend in die Hände. „Semmelmayr, Sie können jetzt reinkommen!“ Und herein kam ein rundlicher, schweißgebadeter Diener des Staates, der ein enormes japanisches Schwert trug, das er schließlich schnaufend auf den Tisch legte. Ein Murmeln ging durch den Raum – das hatte keiner erwartet! Nina von Müllersdorf hatte also beschlossen, die Fäden in die Hand zu nehmen. Beim Anblick der mächtigen Waffe rutschte Eckarts Bleistift aus und bescherte jenes wundervolle Quietschen, das man von der Lehrertafel kennt …

Diese Vorstellung tat Andreas gut. Lehrertafeln! Da war er doch mal ganz in seinem Element, mit kreischender Kreide und so. Aber was sollte Nina eigentlich mit dem blöden Schwert?

Andreas 29

Montag, 16. April 2007 23:24

Erster Schultag nach zwei Wochen friedlichen (oder auch nicht friedlichen) Nichtstuns. Andreas beobachtete hasserfüllt die unausgeschlafenen Jugendlichen in der S-Bahn, die reinstürmten, die Fenster aufrissen und dann ihre Handys fürchterliche Musik abspielen ließen – in Disco-Lautstärke, versteht sich. Und als er sie anstarrte, malte er sich genüsslich seine ungewöhnlichen Methoden ihrer Erziehung aus. Sein Gesicht aber blieb währenddessen unberührt und abweisend wie immer. Wenn seine Mitfahrer seine Gedanken erraten hätten – sie wären schreiend aus dem Abteil gestürmt.

Wieder einmal blickte er auf eine Leiche unter sich, und diesmal war sein Werk ein wahres Kunstwerk, ein Geschenk für die Meister der Pathologie! Der makellose Schnitt hatte Luftröhre und Speiseröhre so säuberlich durchtrennt, dass die Überreste dieses Körpers, der einmal einem Unwürdigen gehört hatte, dem staunenden Betrachter tiefe Einblicke gewährten. Und wieder reinigte er liebevoll sein Schwert, bevor er es verstaute. Nur eines war diesmal anders: Er wurde beobachtet. Und ahnte es nicht.
Nina hatte sich ganz ins Dunkel der Bäume zurückgezogen und fror plötzlich am ganzen Leib. Was sollte sie jetzt tun?

Andreas 28

Sonntag, 15. April 2007 23:24

Am Abend eines unglaublich sonnigen Aprilsonntags saß Andreas missmutig in seiner Küche und zog immer wieder den Beutel seines Fencheltees aus seiner Tasse, um ihn dann wieder zurückplumpsen zu lassen. Nichts lief so, wie er es wollte! Obwohl alle Leute um ihn herum den Frühling zu genießen schienen, war er so einsam wie eh und je. Die Postkarte seiner Cousine hatte ihn wieder daran erinnert: So war es schon vor fast dreißig Jahren gewesen, so würde es immer sein. Die anderen lachten nur über ihn und er trat immer nur auf der Stelle. Heute war er deshalb auch nicht an einen der munteren Seen Berlins gefahren, sondern zur Gedenkstätte Sachsenhausen nach Oranienburg. Das war in seinen Augen angemessener, zumal es der Holocaust– Gedenktag war.
Nun aber saß er müde am Küchentisch, und viel mehr als die Frage nach der Feigheit der Deutschen von damals beschäftigte ihn seine eigene Feigheit. Seine Untätigkeit. Würde er zum Beispiel jemals im Stande sein, jemanden zu töten? Auch der sonntägliche Tatort hatte ihm dabei nicht weitergeholfen: Der Täter ein unglücklicher und überforderter Familienvater. Die Rolle des verdächtigen Sohnes unklar. Die Art und Weise, wie das unbekannte Mädchen letztendlich zu Tode gekommen war, ebenfalls unklar. War er denn nicht mal dazu in der Lage, einen Krimi zu verstehen? Was dachte die kühle Kommissarin Lindholm am Ende über den Fall? Und was dachte Kommissarin Nina über den verkappten Samurai?

Sie ging verzweifelt in ihrem geräumigen Wohnraum auf und ab und es war ihr, als zerreiße sie etwas innerlich. Wie sollte sie sich in Zukunft verhalten? Sie hatte seine Wut gespürt, und auch seine männliche Kraft. Dieser Mensch war eindeutig zu Außerordentlichem imstande. Aber auch zu all diesen schrecklichen Morden, die Berlin seit Wochen erschütterten? Sie würde Rat suchen müssen; die Frage war nur, bei wem. Denn eins war klar: Würden ihre Kollegen herausfinden, was sie getan hatte – sie wäre ihren Job auf der Stelle los.

Auch Andreas ging nun auf und ab, wobei er immer wieder gegen den Küchenstuhl stieß und einmal seine Teetasse umwarf. Plötzlich nahm er das einzige scharfe Messer in die Hand und befühlte seine Spitze mit dem Daumen. Ob er es einfach mal ausprobieren sollte? Vielleicht wäre er dann endlich ein Held, stark und unbezwingbar. Wie ein Indianer der Großstadt.

Andreas 27

Samstag, 14. April 2007 21:24

Als Andreas an diesem letzten Feriensamstag vom Einkaufen heimkehrte, fand er zu seiner Überraschung eine Postkarte im Briefkasten. Wer sollte ihm schreiben? Eine fremde Briefmarke – aus Albanien! Das Bild auf der Karte: eine romantische Berglandschaft, Hügel bis an den Horizont und im Vordergrund eine lächelnde junge Frau in offensichtlich traditioneller Kleidung, mit einem gut gefüllten Obstkorb im Arm. Wer zum Henker schickte ihm diese Karte? Diszipliniert wie er war, wartete er, bis er in seiner Wohnung war, und las dann:
„Hey Alter! Na rate doch mal, von wem diese Karte ist! Hängst du immer noch im versifften Berlin rum? Ich habe den Absprung geschafft und arbeite jetzt an der Uni in Tirana. Voll gut! Weißt du noch, wie wir als Kinder gewettet haben, wer es weiter bringt, du oder ich? Tja, war wohl nix, Andilein!“
Verwirrt starrte Andreas auf die Zeilen. Das konnte nur eine geschrieben haben: Seine dreiste Cousine Lara. Du lieber Himmel! Sie hatte ihn schon immer aufgezogen, weil er wohl erzogen am Tisch sitzen blieb, während sie nach dem Essen aufsprang und in den Garten rannte. „Göre!“, hatte seine Mutter dann immer gezischelt. Er aber war ihr später nach draußen gefolgt und hatte sich willig und fasziniert all ihren verrückten Wünschen gebeugt. Als sie dreizehn waren, musste er ihr Informationen über die Beschaffenheit des männlichen Körpers beschaffen. Noch jetzt wurde er schamesrot, wenn er an diese Begebenheit im Gebüsch zurückdachte! Obwohl es eigentlich nicht wirklich schrecklich gewesen war … Lara hatte ihm damals Dinge über Mädchen verraten, die ihn tief beeindruckt hatten. Und jetzt war sie in Albanien? Wow. Er schloss die Augen und stellte sich dieses fremde Land vor. Sicher, Armut und Schmutz gab es. Aber auch schöne Landschaften und Einsamkeit und das Meer. Ob er sie einmal besuchen sollte?

Er erinnerte sich nicht mehr genau an den Zeitpunkt, zu dem ihm seine japanischen Mitschüler richtig verhasst wurden. Warum mussten sie ihn auch quälen, ihn aufziehen wegen seiner Andersartigkeit? An der Sprache lag es nicht, denn Japanisch beherrschte er fließend. Aber er dachte anders als sie: viel japanischer und traditioneller als irgendeiner unter ihnen. Während sie mit den Mädchen rummachten und in Discos rannten, verbrachte er die Zeit im Tempel bei seinem Meister. Er half ihm die Bäume zu stutzen und die Stufen zum heiligen Raum zu kehren. Doch eines Tages musste er dieses Land verlassen, und einen Teil davon nahm er mit sich: Wenn er die Augen schloss, konnte er den abendlichen Singsang des Süßkartoffelverkäufers mit seiner Karre wieder aufleben lassen. Und er sah sich als kleinen Jungen hinter dem alten Mann herlaufen und eine große, heiße, rote Kartoffel erstehen, in Zeitungspapier eingewickelt, die er dann stolz seiner Mutter heimbrachte.
Vorbei, für immer. Und doch würde er durch seine Taten zumindest etwas vom Guten nach Deutschland bringen. Sein Schwert musste eben sprechen, wenn sonst nichts nutzte!

Andreas war bis zum Abend guter Laune. Eine Karte aus der Ferne! Und die Sonne schien so unglaublich, dass Berlin vielleicht sogar mit Albanien mithalten konnte. Und irgendwo in den USA hatte es am Vortag Schneestürme gegeben! In seinem Überschwang überlegte er sogar für eine Sekunde, ob er Eisbärbaby Knut im Zoo besuchen sollte – doch nein, den Massenandrang würde er sich nicht antun. Stattdessen beschloss er, noch einen besinnlichen Abendspaziergang über den Friedhof zu machen. Nirgends gibt es so viel Grün an der Hermannstraße wie dort. Dumm nur, dass er schon nach wenigen Metern in diesem Grün angebrüllt wurde: „He Sie, wir schließen aber gleich!“. „Ich weiß, in zwanzig Minuten!“, versuchte er zurückzubrüllen, aber sie schien versessen darauf zu sein, ihn aufzuhalten. Da gab er betrübt seinen Plan auf und kehrte um. Die Frau mit ihren zwei Hunden (Auf dem Friedhof!) starrte ihn gimmig an und er zog wie so oft den Kopf ein. Nur keinen Ärger.

Das Schwert sauste surrend durch die Luft und trennte den Kopf so schnell von seinem Körper, dass noch ein überraschtes Lächeln auf dem Gesicht zu liegen schien, als er schließlich zwischen den Gräbern landete. Wieder war der Gerechtigkeit Genüge getan.