Amdreas 20

Freitag, 06. April 2007 14:44

Als er durchs Küchenfenster die triste, graue Wolkendecke betrachtete, wusste Andreas: Ja, so hatte ein Karfreitag auszusehen. Mit gesenktem Kopf und fleischlos musste dieser Tag begangen werden! Aber die Menschen vergaßen ja leider die guten alten Traditionen.
Ob die türkischen Nachbarn schon den Einkaufswagen entdeckt hatten? Er stellte sich vor, wie sie ihm vor der Tür auflauern und zur Rede stellen würden. „Hey Alter, lass die Spielchen mit dem Einkaufswagen!“ Er würde sie dann aber ganz energisch auf eventuelle juristische Konsequenzen hinweisen! Als Kind hatte er sich in solchen Situationen vorgestellt, Old Shatterhand zu sein und gegen die Bösen zu kämpfen. Oh ja, das konnte er noch heute, sich eine blonde (aschfarbene) Strähne aus dem Gesicht streichen und seinem Freund Winnetou ins Gesicht blicken. Wobei der Freund natürlich fehlte. Aber er würde es diesen Rabauken auf jeden Fall zeigen! Vorerst aber begnügte er sich damit, den heiligen Karfreitag mit einem alten Winnetou-Film zu versüßen. Auch die kleine Schwester vom Häuptling der Apachen war ja so süß, so anständig … Da könnte sich die von unten eine Scheibe abschneiden. Gestern hatte die Besuch bekommen, gleich zwei nicht sonderlich alte Männer. Gelächter und Musik hatte er auch mitbekommen. War sowas denn nötig?

Der jungen Kommissarin Nina jagte nichts so schnell Angst ein, aber als sie an jenem strahlenden Ostertag aus dem Haus trat, musste sie doch ganz schön schlucken: Über fünfzehn finstere Gestalten auf Motorrädern hatten sich vor ihrer Haustür versammelt und starrten sie nun wütend an. „Wasn los?“, gab sie sich betont gelassen. „Ist euch das Benzin ausgegangen?“ „Das weißt du ganz gut“, knurrte der Anführer der Motorradgang. „Gib uns zurück, was du uns gestern geklaut hast!“ Doch so leicht ließ sie sich nicht beeindrucken. „Geklaut nennst du das?“, flötete sie. „Ich habe Material sichergestellt, mit dem sich die Polizei noch zu befassen hat!“ Und damit schwang sie sich anmutig auf ihr Rad und schlängelte sich blitzschnell an den klobigen Zweirädern vorbei. Und weg war sie, die zwei Kilo weißen Stoffes in der Satteltasche.

Nur, was sollte das mit dem Samurai zu tun haben? Andreas war sich da noch unschlüssig, erinnerte sich aber rechtzeitig: Eine weitere Zutat zu einem erfolgreichen Krimi war das Unverständliche. Immer wieder wahllos eingesträut, hob es immens das Niveau des Werks: Dinge und Situationen, die zunächst überhaupt keinen Sinn ergaben, später aber zur Auflösung des Falls beitrugen! Außerdem musste man sowieso ständig am Charakter der Hauptperson arbeiten.
Zufrieden legte Andreas das Fernsehprogramm beiseite und zappte sich zu „Ben Hur“ weiter. Auch schon eine Weile nicht mehr gesehen.

Andreas 19

Donnerstag, 05. April 2007 21:20

Zu spät fiel ihm ein, dass am nächsten Tag Karfreitag war und er unbedingt noch das Lebensnotwendige einkaufen musste. Oh nein. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel zeigte ihm zwar seine mieseste Schlabberkordhose in Matschbraun, aber für den Supermarkt musste die reichen.
Gleich vor dem Nachbarhaus machten sich ein paar türkische Jugendliche daran, den Einkaufswagen zum Laden zurückzuschieben, als sie von einem vorbeikommenden Kumpel dazu überredet wurden, einfach den Euro rauszuholen und den Wagen auf dem Bürgersteig stehen zu lassen. Was Andreas‘ Laune sofort noch mehr dämpfte. Was kostet eigentlich so ein Einkaufswagen? Was für eine Strafe gab es für solche Diebstähle?
Im Laden war es so voll, dass die Kasse nur aus weiter Ferne zu sehen war. Vorösterliche Grauen. Der Rückweg: Mann pinkelt gegen Baum, Neukölln lässt grüßen. Einkaufstasche reißt ein. Hunde kläffen ihn an. Und der einsame Einkaufswagen, wie erwartet zwei Häuser weiter. Grimmig stellt Andreas ihn genau vor das Haus, aus dem vorhin die Jugendlichen gekommen waren. Rache ist süß, denkt er. Da werden sich dann alle fragen, von wem der ist, der Einkaufswagen.
Zu Hause stellte er wie gewöhnlich fest, dass er die Hälfte vergessen hatte. Aber auch egal, er war ja genügsam.

Nina war heilfroh, als sie die parkenden Autos vor dem Supermarkt sah, dass sie schon am Vortag alles eingekauft hatte. So konnte sie sich voll und ganz auf ihren Fall konzentrieren. Zunächst einmal: Wo gab es in der Stadt Menschen, die sich für die Praktiken alter Schwertkämpfer interessierten? Wo würde sie einen Samurai-Rächer finden? Denn davon war sie überzeugt: Ihr Gefühl trog sie nicht.

Andreas 18

Dienstag, 03. April 2007 17:32

Als Andreas an jenem Tag nach Hause fuhr, war er denkbar schlechter Stimmung. Es hatte nach dem Unterricht noch fürchterlichen Ärger gegeben, weil der Schulleiter genau in dem Moment in sein Klassenzimmer gekommen war, als Klein-Albano den Vorhang vom Fenster gerissen und mit ihm in die Tiefe gestürzt war. Die Klasse hatte begeistert gejohlt, Benno hatte die Gunst der Stunde genutzt und Ayse das Kopftuch runtergezogen, was sie mit wütendem Kreischen quitierte. Eine Chance auf Unterricht bestand danach nicht mehr. Das hatte ihm der Schulleiter dann auch noch einmal mit aller Deutlichkeit klargemacht.
In der S-Bahn versuchte sich Andreas nun auf eine erfolgreichere Strategie im Unterricht zu konzentrieren, was aber schwierig war: Schon auf dem Bahnsteig setzte sich eine Frau neben ihn und blies ihren widerlichen Zigarettenqualm in die Luft. Konnten die Leute eigentlich nicht die riesigen Verbotsschilder lesen, die neuerdings überall angebracht waren? Im Zug selbst setzte die sich ausgerechnet neben ihn, sodass er die Rest-Rauch-Wolke auch noch voll inhalieren durfte. Hinter ihm saß einer mit einer Beschallung, die für die ganze S-Bahn ausreichte, und er war nicht der Einzige im Wagen. Und ihm gegenüber musste einer seine komplette Tageszeitung auf einen Blick erfassen, jedenfalls brauchte der mehr Platz als drei nomale Menschen. Was war nur los mit den Leuten, konnte keiner mehr Rücksicht nehmen auf hart arbeitende und ausgebeutete Menschen wie ihn? Gequält schloss er die Augen.

„Ich bin ein Samurai, und es ist gut, dass die anderen das nicht sehen können. Denn nur so kann ich meine Mission erfüllen und die Menschheit befreien. Wenn nur oft genug die Unreinheiten entfernt werden, dann kann die Schönheit wieder erstrahlen. Wie damals, als ich ein Kind in Japan war und jeden Tag zusehen durfte, wie der Priester den Boden vor dem Schrein fegte. Das war die absolute Schönheit. Strich für Strich wurde jedes Blatt, jeder Zweig erfasst und am Ende gab es nur noch diese klaren Linien des Besens im sandigen Boden. Sie werden ihre Lektion lernen müssen, diese Unwürdigen um mich herum!“
So dachte die Gestalt in Schwarz, als sie sich schweigend dem nächsten Opfer näherte. Denn noch waren nicht alle neun Zeichen der Unwürde beseitigt.

Andreas musste auf der Fahrt wohl leicht eingedöst sein, jedenfalls schreckte er erst Sonnenallee auf und stürzte entsetzt aus dem Zug. Auch noch zurückfahren, wie er das hasste!

Andreas 17

Montag, 02. April 2007 17:22

Während er versuchte, im Klassenzimmer für Ruhe zu sorgen, überlegte Andreas, wie er das Problem mit den Leichen lösen konnte. Klein-Angie, eigentlich Angélique, biss ihrem Nachbarn Marvin ins Bein und der heulte laut auf. Gleich dahinter versuchte Jean-Paul, also Paulchen, seinen Füller über seinem Heft auszupressen. Seine Hose und das Gesicht hatten schon einiges abbekommen. Warum gaben diese Eltern ihren Kindern eigentlich so idiotische Namen? Von der Erziehung ganz zu schweigen.
Die Leichen müssten gefunden und identifiziert werden. Unappetitliche Einzelheiten aus der Gerichtsmedizin waren der unbedingte Knaller! Es gab da Experten, die konnten anhand der Käfer im Magen des Toten feststellen, wie lange der tot war, wo er gelegen hatte und vielleicht sogar, welche köstliche Speise er vor seinem Tod noch zu sich genommen hatte. Ekelhaft. Und faszinierend, jedenfalls für den eingefleischten Krimileser. Andreas schrieb eine Reihe von Zahlen für seine lieben Schüler an die Tafel und grübelte weiter.

Der Gerichtsmediziner Alfons Zimmerer sah an diesem Tag einfach nur müde aus. Noch nie hatte man ihm eine solchen Leiche vorgelegt! Die letzten Stunden hatte er mit der Obduktion zugebracht. Jetzt saß er mit zwei Kommissaren in der Kneipe, und das Bier lockerte seine Zunge. Nina, die sich noch nicht an derlei Details hatte gewöhnen können, stellte ihr Glas ab und schien mit einem Mal keinen Appetit mehr zu haben.

Weiter kam Andreas nicht mit seinen Gedanken. Gerade hatte Abdallah seinem Vordermann den Inhalt seines Anspitzers in den Kragen geschoben, was die meisten sehr lustig fanden, nicht aber Ben, der sich den Pullover vom Körper riss. Warum in drei Teufels Namen war er damals bloß Lehrer geworden? Beamter auf dem Standesamt, das wärs doch gewesen! Ruhig und positiv und meistens ohne Kinder. Aber seine Mutter hatte ihm ja zugeredet. Nettes Studium, hinterher ausgesorgt und immer die Jugend um sich … pah!
Leichenstarre. Fäulnisgase. Wundrand. Das waren doch hübsche Worte, um den Bericht des Pathologen aufzupeppen. Dumm nur, dass sein Mörder ein disziplinierter Möchtegernsamurai sein sollte, das hatte er ganz vergessen! Mal sehn …

An diesem Tag war der Gerichtsmediziner Albert Zimmerlein richtig guter Dinge. „Leute, so eine Leiche könnt ihr mir öfter vorbeibringen!“, meinte er grinsend in der Kneipe, während er Nina und ihrem Kollegen zuprostete. „Saubere Arbeit, wirklich! Klassischer Schnitt, Kopf ab, ohne die Waffe abzusetzen. Muss ein echt scharfes Teil gewesen sein.“ „Wie jetzt, scharf?“, wagte Nina ihn zu unterbrechen. Normalerweise mochte er das nicht. „Ein absolut scharfes Messer oder Schwert, würde ich sagen. Da muss einer noch stundenlang nach dem Kauf dran rumgefeilt haben!“ Verblüfft griff nun auch Nina wieder zu ihrem Campari Orange und strich sich dabei eine rote Strähne aus dem Gesicht. „So scharf wie das Schwert eines Samurai?“, flüsterte sie dann, und es war, als lichte sich ein Vorhang in ihrem Inneren. Das war es!

Leider merkte Andreas nicht, wie sich der kleine Albano hinter dem Vorhang am Fenster hochhangelte. Doch die Folgen dieser Unternehmung sind wieder eine andere Geschichte.

Andreas 16

Sonntag, 01. April 2007 20:48

An jenem Sonntag fühlte Andreas sich krank. Er blieb daher den ganzen Tag im Bett, starrte in ein Buch oder aus dem Fenster und bedauerte sich. Wenn seine Mutter jetzt hier wäre, ja, die hätte ihm Tee gemacht und „Krankenkekschen“, wie sie die immer genannt hatte. „Hier Andilein, damit du schnell wieder gesund wirst.“ Trübselig dreht er sich zur Seite, Blick auf die braune Schrankwand. Oder diese Nina von unten. Jung und frisch, wie die war, könnte sie ihm doch auch einen Apfel schneiden oder so etwas. Aber nein, mit der hatte er es sich ja verdorben. Mist.
Fieber hatte er nicht direkt. Aber diese Müdigkeit und der Husten. Und morgen Vertretung in der Dritten, grässliche Klasse.
Sein Werk. Bisher hatte er sich noch keine richtigen Gedanken über den Anfang gemacht. Der war das Wichtigste. Spannend, damit das Buch nicht schon in der Buchhandlung wieder zugeschlagen wurde. Am besten aus der Sicht des Mörders, damit der Leser gleich einen Vorsprung der Polizei gegenüber hatte. Und finster, ja. Vielversprechend: der Leser musste sich mit der Erwartung eines ekelhaften Mordes wohlig zurücklehnen dürfen.

Er stand vor der Wand mit den Schwertern und wusste endlich, was zu tun war. All die Jahre der Meditation hatten nur der Vorbereitung gedient. Nun war die Zeit der Rache gekommen.

Ach nein, nicht zu dramatisch. Eher einfühlsam, das kam besser.

Ein Freund von japanischen Schwertern wäre bei diesem Anblick wahrscheinlich in andächtiges Schweigen gefallen. Er aber war es gewohnt, Tag für Tag die Schläge zu üben, die eines Tages einem unwürdigen Leben ein Ende bereiten würden.
Schon als Kind deutscher Eltern hatte er in Japan die Schnelligkeit bewundert, mit der dort die wunderbaren Waffen gehandhabt wurden.

Andreas ging in die Küche, nahm sich das Gemüsemesser und schnitt sich seinen Apfel. Dabei rutschte ihm das Teil auch noch aus und er bekam einen ziemlich tiefen Schnitt ab. Heute ging aber auch alles schief! Pflaster. Gab es eigentlich noch Samurai in Japan? Oder hieß das dann Samurais? Er würde sich noch einiges anlesen müssen.

Andreas 15

Samstag, 31. März 2007 11:34

Außerdem galt es, den Leser in die Irre zu führen. Der wollte das ja geradezu! Einerseits musste er sich also den ganzen Kommissaren überlegen fühlen und jedem im Geiste immer wieder zurufen wollen: Halt, dreh um! Sieh dir den doch noch mal an, das war der Bösewicht!
Andererseits muss am Schluss eine solche Überraschung kommen, dass der Leser (mit Leserinnen beschäftigte sich Andreas weniger) völlig verblüfft das Buch zuschlägt, sich zurücklehnt und nochmal Schritt für Schritt rekapituliert, wo ihm der entscheidende Hinweise entgangen sein mag. Dachte der angehende Bestsellerverfasser, während er seine samstägliche Einkaufsliste erstellte. Dabei fiel ihm ein, dass Sonntag der 1. April war. Pech für seine Schüler! Endlich einmal ein Jahr ohne diese obligatorischen Scherze wie „Herr Lehrer, neben Ihrem Schuh liegt eine tote Maus“ und so ein Mist. Er hatte das nie ausstehen können, schon als Kind nicht. Seine Mutter hatte ihm dann immer ermunternd auf die Schultern geklopft und gesagt: „Nu mach doch auch mal was Lustiges, Andilein, is ja ein Trauerspiel mit dir. Übrigens, habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass wir dich damals adoptiert haben? Drum kommst du so gar nicht nach uns, mein Kleiner!“ Und sie hatte sich dann vor Lachen ausgeschüttet, als sie seine schreckgeweiteten Augen gesehen hatte.

Bei der Sonderkonferenz saßen sie zunächst alle schweigend. Brönninger glotzte aus dem Fenster und faselte etwas von Frühling. Erwin Wergel, der die Sitzung heute leitete, hatte auf dem Tisch noch einmal all die entsetzlichen Bilder ausgebreitet, die die fünf Morde dokumentierten. Alle waren blitzschnell durchgeführt worden. Mit einer Klinge, die man im Alltag nicht finden konnte. Und alle hatten sie etwas von einer mittelalterlichen Hinrichtung. Nina musste plötzlich wieder an den Fremden denken, der gestern vor ihr gestanden hatte. Als wollte er ihr etwas sagen, hatte er ihr in die Augen gestarrt. Und dann war er verschwunden und hatte sie mit dem bekemmenden Gefühl, etwas übersehen zu haben, zurückgelassen.

Andreas ärgerte sich: Er hatte übersehen, dass er zur Post hätte gehen sollen, das übliche Päckchen an seine Mutter. Und heute würde es diese kilometerlange Schlange geben, wie immer am Monatsende und -anfang. Mist. Er nahm seine Jacke.